DEUTSCHE MENSCHEN
EINE FOLGE VON BRIEFEN
AUSWAHL UND EINLEITUNGEN
VON
DETLEF HOLZ
1936
VITA NOVA VERLAG LUZJERN
p^,_-r-BT-r-.i— -F^. TS7, 7 .,_.
Alle Rechte vorbehalten
Copyright by Vita Nova Verlag Luzern
Einbandzeichnung von Max von Moos
Gedruckt in der Buchdruckerei H. Borsigs Erben A.G. Zurich
ijeufftfie
Von €hee ohne Ruhm
Von Gcol^c oKnc 6l&nz
Von ZXlutrbe ohne Solo
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VORWORT
Die fiinfundzwanzig Briefe dieses Bandes umfassen
den Zeitraum eines Jahrhunderts. Der erste ist von 1783,
der letzte von 1883 datiert. Die Reihenfolge ist chrono-
logisch. Ausserhalb ihrer ist das folgende Schreiben ge-
stellt. Aus der Mitte des hier umspannten Jahrhunderts
stammend, gibt es den Blick auf die Anfdnge der Epoche
— Goethes Jugend — frei, in voelcher das Bzirgertum seine
grossen Positionen bezog; es gibt ihn aber — durch seinen
Anlass, Goethes Tod — auch auf das Ende dieser Epoche
frei, da das Bilrgertum nur noch die Positionen, nicht
mehr den Geist bewahrte, in welchem es diese Positionen
erobert hatte. Es war die Epoche, in der das Biirgertum
sein geprdgtes und gewichtiges Wort in die Wagschale
der Geschichte zu legen hatte. Freilich schiverlich mehr
als eben dieses Wort; darum ging sie unschdn mit den
Griinderjahren zu Ende. Lange ehe der folgende Brief
geschrieben wurde, hatte, im Alter von sechsundsiebzig
Jahren, Goethe dieses Ende in einem Gesicht erfasst, das
er Zelter in folgenden Worten mitteilte: «Reichthum und
Schnelligke.it ist, was die Welt bewundert und wornach
jeder strebt. Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe
und alle mogliche Facilitdten der Communication sind es,
worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu iiberbilden und
dadurch in der Mittelmdssigkeit zu verharren . . . Eigent-
lich ist es das Jahrhundert fiir die fdhigen Kopfe,
fiir leichtfassende praktische Menschen, die, mit einer
gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihre Superioritdt iiber
die Menge fiihlen, wenn sie gleich selbst nicht zum Hoch-
sten begabt sind. Lasst uns soviel als moglich an der
Gesinnung halten, in der wir herankamen; wir werden,
mit vielleicht noch Wenigen, die Letzten seyn einer
Epoche, die so bald nicht wiederkehrt.»
KARL FRIEDRICH ZELTER
AN KANZLER VON MuLLER
Berlin, den 31. Marz 1832.
Erst heute, verehrtester Mann, kann ich Ihnen fiir die
freundschaftlichste Theilnahme danken, von welcher Art
auch die Gelegenheit diesmal seyn mag.
Was zu ervvarten, zu fiirchten war, musste ja kommen.
Die Stunde hat geschlagen. Der Weiser steht wie die Sonne
zu Gibeon, denn siehe auf seinem Riicken hingestreckt
liegt der Mann, der auf Saulen des Hercules das Uni-
versum beschritt, wenn unter ihm die Machte der Erde
una den Staub eif erten unter ihren Fiissen.
Was kann ich von mir sagen? zu Ihnen? zu alien dort?
und iiberall? — Wie Er dahinging vor mir, so ruck' ich
Ihm nun taglich naher und werd' ihn einholen, den hol-
den Frieden zu verewigen, der so viel Jahre nach ein-
ander den Raum von sechsunddreyssig Meilen zwischen
uns erheitert und belebt hat.
Nun hab' ich die Bitte : horen Sie nicht auf, mich Ihrer
freundschaftlichen Mittheilungen zu wiirdigen. Sie wer-
den ermessen, was ich wissen darf, da Ihnen das niemale
gestorte Verhaltnis zweyer, im Wesen stets einigen, wenn
auch dem Inhalte nach weit von einander entfernten Ver-
trauten bekannt ist. Ich bin wie eine Wittwe, die ihren
Mann verliert, ihren Herrn und Versorger! Uud doch darf
ich nicht trauern; ich muss erstaunen iiber den Reich-
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thum, den er mir zugebracht hat. Solchen Schatz hab'
ich zu bewahren und mir die Zinsen zu Capital zu machen.
Verzeihen Sie, edler Frextnd! Icb soil ja nicht klagen,
und doch wollen die alten Augen nicht gehorchen tmd
Stich halten. Ihn aber habe ich auch einmal weinen sehn,
das muss mich rechtfertigen.
Zelter.
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INHALT
Georg Christoph Lichtenberg an G. H. Amelung
Johann Heinrich Kant an Immanuel Kant
Georg Forster an seine Fran
Samuel Collenbusch an Immanuel Kant
Heinrich Pestalozzi an Anna Schulthess
Johann Gottfried Seume an den Gotten seiner friiheren
Verlobten
Johann Heinrich Voss an Jean Paul
Friedrich Holderlin an Casimir Bohlendorf
Clemens Brentano an den Buchhandler Reimers
Johann Wilhelm Bitter an Franz von Baader
Bertram an Sulpiz Boisseree
Ch. A. H. Clodius an Elisa von der Recke
Annette von Droste-Hiilshoff an Anton Matthias Sprick-
mann
Joseph Gorres an den Stadtpfarrer Aloys Vock in Aarau
Justus Liebig an Graf August von Platen
Wilhelm Grimm an Jenny von Droste-Hiilshoff
Karl Friedrich Zelter an Goethe
David Friedrich Strauss an Christian Maerklin
Goethe an Moritz Seebeck
Georg Biichner an Karl Gutzkow
Johann Fiiedrich Dieffenbach an einen Unbekannten
Jacob Grimm an Friedrich Christoph Dahlmann
Furst Clemens von Metternich an den Graf en Anton von
Prokesch-Osten
Gottfried Keller an Theodor Storm
Franz Overbeck an Friedrich Nietzsche
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Man kennt den beriihmten Brief, den Lessing nach dem Tod
seiner Frau an Eschenburg selirieb : «Meine Frau ist tot : und diese
Erfahrung habe icb nun auch gemacht. Ich freue mich, dass mir
viel dergleichen Erfahrungen nicht mehr iibrig sein konnen zu
macben; und bin ganz leicht. — Auch tut es mir wohl, dass icb.
mich Ihres, und unsrer iibrigen Freunde in Braunschweig, Bei-
leids versichert halten darf.» — Das ist alles. Diesen grossartigen
Lakonismus hat auch der soviel langere Brief, den Lichtenberg,
nicht viel spater und aus verwandtem Anlass, an einen Jugend-
freund gerichtet hat. Denn so ausfiihrlich er iiber die Lebensum-
stande des kleinen Madchens ist, das Lichtenberg in sein Haus
nahm, soweit er in ihre Kindheit zuriickgreift, so unvermittelt und
erschiitternd ist, wie er — ohne ein Wort von Krankheit und Kran-
kenlager — mittendrin abbricht, als hatte der Tod nicht nach der
Geliebten allein, sondern auch nach der Feder gegriffen, die ihre
Erinnerung festhalt. In einer Uinwelt, die in ihren Tagesmoden vom
Geist der Empfindsamkeit, in ihrer Dichtung vom genialischen We-
sen erfiillt war, pragen unbeugsame Prosaisten, Lessing und Lich-
tenberg an der Spitze, preussischen Geist reiner und menschlicher
aus als das fredericianische Militar. Es ist der Geist, der bei Lessing
die Worte findet: «Ich wollte es auch einmal so gut haben wie andere
Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen» und Lichtenberg die
grausame Wendung eingibt: «Die Aerzte hoffen wieder. Mich
diinkt aber, es ist alles vorbei, denn ich bekomme kein Geld fiir
meine Hoffnung.» Die in Tranen gebeizten, in Entsagung ge-
schrumpften Ziige, die aus solchen Briefen uns ansehen, sind Zeu-
gen einer Sachlichkeit, die mit keiner neuen den Vergleich zu
meiden hat. Im Gegenteil: wenn irgend eine, so ist die Haltung
dieser Burger unverbraucht und von dem Raubbau unbetroffen
geblieben, den das neunzehnte Jahrhundert in Zitaten und Hof-
theatern mit den «Klassikerns> trieb.
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GEORG CHRISTOPH LICHTENBERG
AN G. H. AMELUNG
Gottingen, Anfang 1783.
Mein allerliebster Freund,
Das heisse ich fiirwahr deutsche Freundschaft, liebster
Mann. Haben Sie tausend Dank fur Ihr Andenken an
mich. Ich habe Ihnen nicht gleich geantwortet, und der
Himmel weiss, wie es bei mir gestanden hat ! Sie sind, und
miissen der erste sein, deni ich es gestehe. Ich habe vori-
gen Sommer, bald nach Ihrem letzten Brief, den grossten
Verlust erlitten, den ich in meinem Leben erlitten habe.
Was ich Ihnen sage, muss kein Mensch erf ahren. Ich lernte
im Jahre 1777 (die sieben taugen wahrlich nicht) ein
Madchen kennen, eine Biirgerstochter aus hiesiger Stadt,
sie war damals etwas iiber dreizehn Jahre alt; ein solches
Muster von Schonheit und Sanftmut, hatte ich in meinem
Leben noch nie gesehen, ob ich gleich viel gesehen habe.
Das erste Mai, da ich sie sah, befand sie sich in einer
Gesellschaft von fiiaf bis sechs andern, die, wie die Kinder
hier tun, auf dem Wall den Vorbeigehenden Blumen ver-
kaufen. Sie hot mir einen Strauss an, den ich kaufte. Ich
hatte drei Englander bei mir, die bei mir assen und wohn-
ten. God almighty, sagte der eine, what a handsome girl
this is- Ich hatte das ebenfalls bemerkt, und da ich wusste,
was fur ein Sodom unser Nest ist, so dachte ich ernstlich,
dieses vortreffliche Geschopf von einem solchen Handel
abzuziehen. Ich sprach sie endlich allein, und bat sie,
mich im Hause zu besuchen; sie ginge keinem Burschen
auf die Stube, sagte sie. Wie sie aber horte, dass ich ein
Professor ware, kam sie an einem Nachmittage mit ihrer
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Mutter zu mir. Mit einem Wort, sie gab den Blumen-
handel auf, und war den ganzen Tag bei mir. Hier fand
ich, dass in dem vortrefflichen Leib eine Seele wohnte,
grade so wie ich sie langst gesucht, aber nie gefunden
hatte. Ich unterrichtete sie im schreiben und rechnen, und
in anderen Kenntnissen, die, ohne eine empfindsame
Geckin aus ihr zu machen, ihren Verstand immer mehr
entwickelten. Mein physikalischer Apparat, der mich
iiber 1500 Taler kostete, reizte sie anfangs durch seinen
Glanz und endlich wurde der Gebrauch davon ihre ein-
zige Unterbaltung. Nun war unsere Bekanntschaft aufs
Hochste gestiegen. Sie ging spat weg, und kam mit dem
Tage wieder, und den ganzen Tag iiber war ihre Sorge,
meine Sachen, von der Halsbinde an bis zur Luftpumpe
in Ordnung zu halten, und das mit einer so himmlischen
Sanftmut, deren Moglichkeit ich mir vorher nicht gedacht
hatte. Die Folge war, was Sie schon mutmassen werden,
sie bheb von Ostern 1780 an ganz bei mir. Ihre Nei-
gung zu dieser Lebensart war so unbandig, dass sie nicht
einmal die Treppe herunterkam, als wenn sie in die
Kirche und zum Abendmahl ging. Sie war nicht wegzu-
bringen. Wir waren bestandig beisammen. Wenn sie in
der Kirche war, so war es mir als hatte ich meine Augen
und alle meine Sinnen weggeschickt. — Mit einem
Wort — sie war ohne priesterliche Einsegnung (verzeihen
Sie mir, bester, liebster Mann, diesen Ausdruck) meine
Fran. Indessen konnte ich diesen Engel, der eine solche
Verbindung eingegangen war, nicht ohne die grosste Riih-
rung ansehen. Dass sie mir alles aufgeopfert hatte, ohne
vielleicht ganz die Wichtigkeit davon zu fiihlen, war mir
unertraglich. Ich nahm sie also miit an Tisch, wenn
Freunde bei mir speisten, und gab ihr durchaus die Klei-
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doing, die ihre Lage erforderte, und liebte sie mit jedem
Tage mehr. Meine ernstliche Absicht war, mich mit ihr
auch vor der Welt zu verbinden, woran sie nun nach und
nach mich zuweilen zu erinnern anfing. O du grosser
Gott! und dieses himmlische Madchen ist mir am 4ten
August 1782 abends mit Sonnen-Untergang gestorhen. Ich
hatte die besten Aerzte, alles, alles in der Welt ist getan
worden. Bedenken Sie, liebster Mann, und erlauben Sie
mir, dass ich hier schliesse. Es ist mir unmoglich fort-
aufahren.
G. C. Lichtenherg.
i Man muss, um sich recht in den Geist des folgenden Briefes
zu versetzen, niclit nur die ganze Diirftigkeit eines mit wenig mehr
als seinen Schulden und vier Kindern ausgestatteten Pastorenhaus-
j halts im Baltischen vor Augen haben, sondern auch das
i Haus, in das er gerichtet war: Immanuel Kants Haus am Schloss-
I graben. Da fand niemand «tapezierte oder herrlich gemalte Zim-
mer, Gemaldesamnilungen, Kupferstiche, reichliches Hausgerat,
' splendide oder einigen Wert nur habende Meublen, — nicht ein-
mal eine Bibliothek, die doch bei mehreren auch welter nichts als
Zimmermeublierung ist; ferner wird darin nicht an geldsplitternde
Lustreisen, Spazierfahrten, auch in spatern Jahren an keine Art
von Spielen usf. gedac.ht.» Trat man hinein, «so herrsclite eine fried-
. liche Stille Stieg man die Treppe hinauf, so . . . ging man links
t durch das ganz einfache, unverzierte und zum Teil rauchrige Vor-
haus in ein grosseres Zimmer, das die Putz-Stube vorstellte, aber
' keine Pracht zeigte. Ein Sofa, etliche mit Leinwand iiberzogene
i Stiihle, ein Glasschrank mit einigem Porzellan, ein Bureau, das
sein Silber und vorratiges Gold befasste, nebst einem Warmemes-
ser und einer Konsole — waren alle die Meublen, die einen Teil
der weissen Wande bedeckten. Und so drang man durch eine ganz
armselige Tiir in das ebenso armliche Sans-Souci, zu dessen Be-
* tretung man beim Anpochen durch ein frohes «Herein!» eingeladen
t wurde.» So vielleicht auch der junge Studiosus, der dies Schreiben
nach Konigsberg brachte. Kein Zweifel, dass es wahre Humanitat
-, atmet. Wie alles Vollkomraene aber sagt es zugleich etwas iiber
die Bedingungen und die Grenzen dessen, dem es derart vollende-
.. ten Ausdruck gibt. Bedingungen und Grenzen der Humanitat? Ge-
' wiss, und es scheint, dass sie von uns aus ebenso deutlich gesichtet
}' werden, wie sie auf der andern Seite vom mittelalterhchen Daseins-
{, stande sich abheben. Wenn das Mittelalter den Menschen in das
^ Zentrum des Kosmos stellte, so ist er uns in Stellung und Bestand
! gleich problematisch, durch neue Forschungsmittel und Erkennt-
f nisse von innen her gesprengt, mit tausend Elementen, tausenden
f Gesetzlichkeiten der Natur verhaftet, von welcher gleichfalls unser
i,
I
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Bild im radikalsten Wandel sich befindet. Und nun blicken wir
zuriick in die Aufklarung, der die Naturgesetze noch an keiner
Stelle im Widerspruch zu einer fasslichen Ordnung der Natur ge-
standen haben, die diese Ordnung im Sinne eines Reglementes
verstand, die Untertanen in Kasten, die Wissenschaften in Fachern,
die Habseligkeiten in Kastchen aufmarschieren liess, den Menschen
aber als homo sapiens zu den Kreaturen stellte, um durch die Gabe
der Vernunft allein von ihnen ihn abzuheben. Derart war die Bor-
niertheit, an welcher die Humanitat ihre erhabene Funktion ent-
faltet und ohne die sie zu schrumpfen verurteilt war. Wenn dieses
Aufeinanderangewiesensein des kargen eingeschrankten Daseins und
der wahren Humanitat nirgends eindeutiger zum Vorscbein kommt
als bei Kant (welcher die strenge Mitte zwiscben dein Schulmeister
und deni Volkstribunen markiert), so zeigt dieser Brief des Bru-
ders, wie tief das Lebensgefuhl, das in den Schriften des Philoso-
phen zum Bewusstsein kam, im Volke verwurzelt war. Kurz, wo von
Humanitat die Rede ist, da soil die Enge der Biirgerstube nicht
vergessen werden, in die die Aufklarung ihren Sehein warf. Zu-
gleich sind damit die tieferen gesellschaftlichen Bedingungen aus-
gesprochen, auf denen Kants Verhaltnis zu seinen Geschwistern be-
ruhte: der Fiirsorge, die er ihnen angedeihen liess und vor allem
des erstaunlichen Freimuts, mit dem er iiber seine Absichten als
Testator und die sonstigen Unterstiitzungen sich vernehmen liess,
die er schon bei Lebzeiten ihnen zuwandte, so dass er keinen, we-
der von seinen Geschwistern «noch ihren zahlreichen Kindern,
deren ein Teil schon wieder Kinder hat, habe Not leiden lassen.»
Und so, setzt er hinzu, werde er fortfahren, bis sein Platz in- der
Welt auch vakant werde, da dann hoffentlich etwas auch fur seine
Verwandten und Geschwister iibrig bleiben werde, was nicht un-
betrachtlich sein diirfte. Begreiflich, dass die Neffen und Nich-
ten, wie in diesem Schreiben auch spater an den verehrten Onkel
sich «schriftlich . . . anschmiegen». Zwar ist ihr Vater schon im
Jahre 1800, vor dein Plulosophen, gestorben, Kant aber hat ihnen
hinterlassen, was ursprunglich seinem Bruder zugedacbt war.
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JOHANN HEINRICH KANT AN
IMMANUEL KANT
Altrahden, 21. Aug. 1789.
Mein liebster Bruder!
Es wird wohl nicht unrecht sein, dass wir uns nach
einer Reihe von Jahren, die ganz ohne alien Brief wechsel
unter uns verlebt worden, einander wieder nahern. Wir
sind beide alt, wie bald geht einer von uns in die Ewigkeit
hmiiber; billig also, dass wir beide einmal das Andenken
der binter uns liegenden Jahre wieder erneuern; mit dem
Vorbehalt, in der Zukunft dann und wann (moge es auch
selten geschehen, wenn nur nicht Jahre oder gar mehr
als lustra dariiber verfliessen) uns zu melden, wie wir
leben, quomodo valemus.
Seit acht Jahren, da ich das Schuljoch abwarf, lebe ich
noch immer als Volkslehrer einer Bauerngenieinde auf
meinem Altrahdenschen Pastorate, und ich nahre mich
und meine ehrliche Familie frugalement und geniigsam
von meinem Acker :
Rusticus abnormis sapiens crassaque Minerva.
Mit meiner guten und wiirdigen Gattin fiihre ich eine
gluekliche liebreiche Ehe und freue mich, dass meine
vier wohlgebildeten, gutartigen, folgsamen Kinder mir
die beinahe untriigliche Erwartulig gewahren, idass sie
einst brave, rechtschaffene Menschen sein werden. Es wird
mir nicht sauer, bei meinen wirklich schweren Amtsge-
schaften doch ganz allein ihr Lehrer zu sein, und dieses
Erziehungsgeschaft unserer lieben Kinder ersetzt mir und
meiner Gattin hier in der Einsamkeit den Mangel des
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gesellschaftlichen Umganges. Dieses ist nun die Skizze
meines immer einformigen Lebens.
Wohlan liebster B ruder! So lakonisch als Du nur im-
mer willst (ne in publica Commoda pecces, als Gelehrter
und Schriftstellers), lass es mir doch wissen, wie Dein Ge-
sundheitszustand bisher gewesen, wie er gegenwartig ist,
was Du als Gelehrter zur Aufklarung der Welt und Nach-
welt noch in Petto habest. Und dann, wie es meinen noch
lebenden lieben Schwestern und den Ihrigen, wie es dem
einzigen Sohne meines seligen verehrungswiirdigen vater-
lichen Onkels Richter gehe. Gerne bezahle ich Postgeld
fiir Deinen Brief und sollte er auch nur eine Oktavseite
einnehmen. Doch Watson ist in Konigsberg, der Dich ge-
wiss besucht haben wird. Er wird ohnfehlbar bald wieder
nach Kurland zuriickkommen. Der konnte mir ja einen
Brief von Dir, den ich so sehnsiichtig wiinsche, mitbringen.
Der junge Mensch, der Dir diesen Brief einhandigt,
namems Labowsky, ist der Sohn eines wiirdigen, recht-
schaffenen polnischen reformierten Predigers des Radzi-
willschen Stadtchens Birsen; er geht nach Frankfurt an
der Oder, daselbst als Stipendiat zu studieren. Ohe! jam
satis est! Gott erhalte Dich noch lange und gewahre mir
bald von Deiner Hand die angenehme Nachrieht, dass Du
gesund und zufrieden lebest. Mit dem redlichsten Herz
und nicht perfunctorie zeichne ich mich Deinen Dich auf-
richtig liebenden
Bruder
Johann Heinrich Kant.
Meine liebe Gattin umarmt Dich schwesterlich und
dankt nochmals herzlich fiir die Hausmutter, die Du ihr
vor einigen Jahren uberschicktesit. Hier kommen nun
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raeine lieben Kinder und wolleo sieh durchaus in diesem
Briefe a la file hinstellen.
(Von der dltesten Tochter Hand:)
J a, verehrungswtirdiger Herr Qnkel, ja, geliebte Tan-
ten,* wir wollen durchaus, dass Sie unser Dasein wissen,
uns lieben und nicht vergessen sollen. Wir werdenSie von
Herzen lieben und verehren, wir alle, die wir uns eigen-
Itandig unterzeichnen.
Amalie Charlotta Kant.
Minna Kant.
Friedrich Wilhelm Kant.
Henriette Kant.
* Gemeint aind die beiden in KSnigsberg lebendea Scliweatero der Briider K.sut.
23
Als 1792 die Franzosen in Mainz einriickten, war Georg Forster
dort kurfiirstlicher Bibliothekar. Er stand in den Dreissigern. Ein
reiches Leben lag hinter ihm, das ihn als Jiingling schon, in der
Gefolgschaft seines Vaters, an einer Weltumseglung — der Cook-
schen, 1773 — 1775 — hatte teilnehmen, aber auch schon als Jiing-
ling — mit tJbersetzungs- und Gelegenheitsarbeiten — die Harte
des Daseinskampfes hatte spiiren lassen. Das Elend der deutschen
Intellektuellen seiner Zeit hat Forster dann in langen Wanderjahren
so gut kennen gelernt wie ein Burger, Holderlin oder Lenz; es war
aber seine Misere nicht die des Hofmeisters in irgend einer klei-
nen Residenz, sondern ihr Schauplatz war Europa, und darum war
er fast als einziger Deutscher vorbestimmt, die europaische Erwide-
rung auf die Zustande, welche sie veranlassten, von Grund auf zu ver-
stehen. 1792 ging er als Delegierter der Stadt Mainz nach Paris und
ist, nachdem die Deutschen durch die Riickeroberung der Stadt
und seine Achtung die Heimkehr ihm verlegt hatten, dort bis zu
seinem Tode, im Januar 1794, geblieben. Hin und wieder hat man
Stellen aus seinen Pariser Briefen herausgegeben. Aber damit war
wenig getan. Denn sie sind ein Ganzes, nicht nur als Folge, die in
der deutschen Briefliteratur kaum ihresgleichen hat, sondern bei-
nahe jeder einzelne ist es, von der Anrede bis zur Signatur uner-
schopflich an Ergiessungen, welche aus einer bis zum Lebensrande
vollen Erfahrung kommen. Was revolutionare Freiheit und wie
sehr auf Entbehrung angewiesen sie ist, hat damals schwerlich
einer wie Forster begriffen, niemand wie er formuliert: «Ich habe
keine Heimat, kein Vaterland, keine Befreundeten mehr, alles,
was sonst an mir hing, hat mich verlassen, una andere Verbindun-
gen einzugehen, und wenn ich an das Vergangene denke und mich
noch fur verbunden halte, so ist das bloss meine Wahl und meine
Yorstellungskraft, kein Zwang der Verhaltnisse. Gute, gliickliche
Wendungen meines Schicksals konnen mir viel geben; schlimme
konnen mir nichts nehmen als noch das Vergniigen, diese Briefe
«zu schreiben, wenn ich das Porto nicht mehr bezahlen kann.»
24
GEORG FORSTER AN SEINE FRAU
Paris, den 8. April 1793.
Ich warte keine neuen Briefe von Dir ab, meine Gute,
um Dir zu schreiben. Wiisste ich raur, class Du beruhigt
warst. Ich bin bed allem, was mir widerf ahren kann, voll-
kommen ruhig und gefasst. Erstlich 1st, weil Mainz
blockiert ist, darum noch nicht alles verloren ; allein wenn
ich auch nie mehr ein Blatt Papier wiedersehen sollte
von allem, was ich dort habe, so soil mich's nicht an-
fechten. Der erste schmerzliche Eindruck dieses Ver-
lustes ist vorbei, ich denke nicht mehr daran, nachdem
ich durch Custine Massregeln getroffen habe, um wo-
moghch zu retten, was zu retten ist. Bleibe ich nur mir
selbst, so will ich schon fur Euch so arbeiten, dass bald
alles nachgeholt sein soil. Mein bisschen Eigentum ging
doch nicht viel iiber dreihundert Carolin an Wert, denn
was ich an Papieren, Zeichnungen und Biichern verlor,
will ich gar nicht rechnen. Ich bin hier auf dem Fleck
der Erde, wo man mit etwas gutem Willen zur Arbeit und
etwas Fahigkeit um Brot nicht bange sein darf. Meine
zwei Mitdeputierten sind schon iibler daran; indessen
bekommen wir doch Diatengelder, bis auf andere Art fur
uns gesorgt ist. Langst schon suche ich mir anzugewohnen,
au jour la journee zu leben, und suche nicht rnehr mit
sanguinischen Hoffnungen schwanger zu gehen; ich finde
das philosophisch wahr und mache Progressen darin. Ich
glaube auch, wenn man dabei nichts versaumt, was zu
unserm Fortkommen und zur Sicherstelhing unserer Lage
gehort, so ist es das einzige, was uns immer galant und un-
abhangig erbalten kann.
25
Aus der Feme sieht alles anders aus, als man's in der
naheren Besichtigung findet. Dieser Gemeinspruch drangt
eich mir liier sehr auf. Ich hange noch fest an meinen
Grandsatzen, allein ich finde die wenigsten Menschen
ihnen getreu. Alles ist blinde, leidenschaftliche Wut, ra-
sender Parteigeist und schnelles Aufbrausen, das nie zu
verniinftigen, ruhigen Resultaten gelangt. Auf der einen
Seite finde ich Einsicht und Talente, ohne Mut und ohne
Kraft; auf der andern eine physische Energie, die, von
Unwissenheit geleitet, nur da Gutes wirkt, wo der Knoten
wirklich zerhauen werden muss. Oft sollte man ihn aber
losen und zerhaut ihn doch. Es steht jetzt alles auf der
Spitze. Freilich glaube ich nicht, dass die Feinde reussie-
ren werden; aber die Nation wird endlich auch miide
werden, immer ganz aufstehen zu miissen. Es kommt also
darauf an, wer am langsten aushalt. Die Idee, dass die
Eigenmaeht in Europa vollends unertraglich w^erden
muss, wenn Frankreich jetzt seine Absicht nicht durch-
setzt, emport mich immer so sehr, dass ich sie mir von
allem Glauben an Tugend, Recht und Gerechtigkeit nicht
abgesondert denken kann, und lieber an diesen alien ver-
zweifeln, als jene Hoffnung vereitelt sehen mochte. Der
ruhigen Kopf e hier sind wenige oder sie verstecken sich;
die Nation ist, was sie immer war, leichtsinnig und unbe-
standig ohne Festigkeit, ohne Warme, ohne Liebe, ohne
Wahrheit — lauter Kopf und Phantasie, kein Herz und
keine Empfindung. Mit dem alien richtet sie grosse Dinge
aus, demi gerade dieses kalte Fieber gibt ihnen ( den Fran-
zosen) ewige Unruhe und den Schein von alien edeln
Anregungen, wo doch nur Enthusiasmus der Ideen, nicht
Gefiihl der Sache vorhanden ist.
Ich bin noch in keinem Schauspiel gewesen, denn ich
26
gehe so spat zu Tisch, dass ich selten dazu kommen kaim*,
auch interessiert es mich wenig und die bisherigen Stiicke
haben mich nicht gereizt. Vielleicht bleibe Ich noch eine
Zeitlang hier, vielleicht setzt man mich auf einem Biixo
in Arbeit, vielleicht versehickt man mich; ich bin auf
alles gefasst, zu allem bereit. Das ist der Vorteil meiner
Lage, wo man an nichts mehr gebunden ist und auf nichte
mehr in der Welt als seine secbs Hemden acht zu geben
hat. Mir bleibt nur die einzige Unannehmlichkeit, dase
ich auf das Schicksal muss alles ankommen lassen, und
das tue ich gern, denn im Grunde steht man eich bei die-
sem Vertrauen doch nicht iibel. Ich sehe wieder das erste
Griin der Baume mit Vergniigen; es ist mir weit ruhren-
der als das Weiss der Bliiten.
27
Wir besitzen von Samuel Collenbusch ein Miniaturportrat aus
dem Jahre 1798. Ein schmachtiger Mann mittlerer Grosse, ein Sam-
metkappchen auf den weissen Locken, bartlos, eine Adlernase, ein
freundlicher offener Mund und ein energiscb.es Kinn, im Antlitz
Spuren ehenials iiberstandener Pocken, die Augen getriibt durch den
grauen Star — so sab dieser Mann fiinf Jahre vor seinem Tode aus.
Er lebte anfangs in Duisburg, spater in Barmen und zuletzt in
Gemarke, von wo auch der folgende Brief datiert ist. Von Beruf
Arzt, nicht Pastor, war er der bedeutendste Fiihrer des Pietismus
in Wuppertal. Sein geistiger Einfluss wirkte sich in miindlicher
Aussprache, daneben aber in einem umfangreichen Briefwechsel
aus, dessen meisterhafter Stil von einer Fiille schrulliger Einzel-
heiten durchwoben ist. So verbindet er z. B. genan wie in seinen
Spriichen, die in der Gemeinde die Runde machten, aucb in den
Briefen gewisse Worte, die innerhalb ibres Zusammenhangs unter-
stricben sind, mit an dem, ebenfalls unterstricbenen, dureh beson-
dere Linienziige, ohne dass beide Worte das mindeste mit einander
zu tun batten. Man hat von Collenbusch sieben Briefe an Kant,
von denen aber nur die wenigsten abgeschickt sein diirften. Der
folgende ist der erste der Reihe und hat Kant erreicht, ist aber von
ihm, soviel man weiss, nicht beantwortet worden. Im ubrigen
waren beide Manner Alters genossen im genauen Sinne. Geboren
sind sie 1724. Collenbusch ist ein Jahr vor Kant, 1803, gestorben.
SAMUEL COLLENBUSCH
AN IMMANUEL KANT
Mein lieber Herr Professor !
23. Januar 1795.
Die Hoffnung erf rent das Herz.
Ich verkaufe meine Hoffnung nicht fur tausend Ton-
nen Galdes. Mein Glaube hofft erBtaunlich viel Gutes von
Gott.
28
Ich bin ein alter, siebzigjahriger Mann, ich bin beinahe
blind, als Arzt urteile ich, class ich in kurzer Zeit vollig
blind sein werde.
Ich bin auch nicht reich, aber meine Hoffnung ist so
gross, dass ich mit keinem Kaiser tauschen mag.
Diese Hoffnung erf reut mein Herz !
Ich habe mir diesen Sommer Ihre Moral und Religion
ein paarmal vorlesen lassen, ich kann mich nicht iiber-
reden, dass es Ihnen ein Ernst sein sollte, was Sie da ge-
schrieben haben. Ein von aller Hoffnung ganz reiner
Glaube und eine von aller Liebe ganz reine Moral, das
iet eine seltsame Erscheinung in der Republik der Ge-
lehrten.
Der Endzweck, so etwas zu schreiben, ist vielleicht eine
Lust, sich zu ergotzen; iiber die Inklination solcher Men-
schen, welche die Gewobnheit haben, sich iiber alles zu
verwundern, was seltsam 1st. Ich halte es mit einem hoff-
nungsreichen Glauben, der durch die sich selbst und den
Hachsten bessernden Liebe tatig ist.
Im Christentum gelten keine Statuten, keine Beschnei-
dung noch Vorhaut etwas, Gal. 5, keine Moncherei, keine
Mess en, keine Wallfahrten, kein Fischessen usw. Ich
glaube, was Johannes schreibt, Joh. 4, 16: Gott ist die
Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott,
und Gott in ihm.
Gott ist die seine verniinf tige Kreatnren bessernde
Liebe, wer in diesem Glauben an Gott und den Nachsten
bessernde Liebe bleibet, der wird es von Gott in dieser
Welt mit geistlichem Segen, Eph. 1, 3, 4, und in der zu-
kiinftigen Welt mit personlicher Herrlichkeit und einem
reichen Erbe wohl belohnt werden. Diesen hoffnungsrei-
chen Glauben kann meine Vernunft und mein Wille un-
29
moglich vertauschen mit eiriem von aller Hoffnung ganz
reinen Glauben.
Es tut mir leid, dass I. Kant nichts Gutes von Gott
hofft, weder in dieser noch in der zukiinftigen Welt, ich
hoff e viel Gutcs von Gott. Ich wiinsche Ihnen eine gleiche
Gesinnung und verharre mit Hochachtung und Liebe zu
eein
Ihr Freund und Diener
Samuel Collenbusch,
Gemarke, den 23. Jan. 1795.
Nachschrif t :
Die Heilige Schrift ist ein stufenweiser, aufsteigender,
mit sich selbst iibereinstimmender, zusammenhangender,
vollstandiger Plan der seine Kreaturen bessernden Liebe.
Z. E. : Die Aui'erstehung der Toten halte ich fiir eine Aus-
ubung der seine Kreaturen bessernden Liebe Gottes.
Ich f reue mich darauf .
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Nach einer miindlichen Ueberlieferung soil Pestalozzi den
Wunsch ausgesprochen haben, auf sein Grab solle fcein anderes
Denkmal gesetzt werden als ein rauher Feldstein; er sei auch nur
ein rauher Feldstein gewesen. Die Natur wollte Pestalozzi weniger
veredeln als — wie diesem Feldstein — im Namen des Menschen
ihr Halt gebieten. Und das ist auch der eigentliche Inhalt des fol-
genden Briefes: der Leidenschaft im Namen des Menschen Halt zu
gebieten. Wie scheinbar ganz spontane Meisterleistungen so oft —
und zu den meisterlichen Liebesbriefen des deutschen Schriftturas
gehort der folgende — ist auch diese die Auseinandersetzung mit
einem Vorbild. Vorbildlich aber sind fur Pestalozzi die halb vom
Pietismus begeisteten, halb schaferlich angehauchten Konfessionen
der schonen Seelen und Kinder des Rokoko. Es sind im Doppelsinn
des Wortes pastorale Briefe, mit denen er hier wetteifert, freilich
nicht ohne gegen den klassischen Briefsteller dieses Genres, die
•sNouvelle Heloise» von Rousseau, die sechs Jahre vor Abfassung
dieses Schreibens erschienen war, sieh abzugrenzen. «Die Erscheinung
Rousseaus», heisst es noch 1826 in der Autobiographie, «war ein
vorziigliches Belebungsmittel der Verirrungen. zu denen der edle
Aufflug treuer, vaterlandischer Gesinnung unsere vorziigliche Ju-
gend in diesem Zeitpunkt hinfiihrte.» Neben dem Stilproblem aber,
das durch die Wendung gegen den «gefahrlichen Irrlehrer» bewal-
tigt wird, ist das private nicht zu iibersehen, das hier die Liebes-
strategie zu losen hat. Es handelt sich urn die Gewinnung des «Dm>.
Der dient die Idealgestalt der schaferlichen Doris, die in der zwei-
ten Halfte des Schreibens auftritt. Sie muss die Stelle der Adressa-
tin fiir die Zeit einnehmen, da Pestalozzi zum ersten Male das Du
gebraucht. Soviel von der Faktur dieses Briefes. Wer aber wird
daruber iibersehen, dass hier Satze iiber die Liebe sich finden —
und alien voran der iiber ihren Sitz — , die es an Dauerhaftigkeit
mit den Worten Homers aufnehmen konnen. Einfache Worte kom-
men nun nicht immer, wie man gern glaubt, aus einfachem Gemiit
— Pestalozzis war es weniger als jedes andere — bilden sich Viel-
mehr geschichtlich. Denn so wie nur das Einfache Aussicht zu
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dauern hat, ist umgekehrt die hochste Simplizitat nur das Produkt
von eben dieser Dauer, an der auch Pestalozzis Schriften teil-
haben. «Je mehr die Zeit vorschreitet», hat daher mit Recht der
Herausgeber seiner «Samtlichen Werke» gesagt, «desto wichtiger
werden alle Schriften Pestalozzis.» Als erster hat er die Erziebung
dem gesellschaftlichen Zustande nicht nur durch Religion und Mo-
ralitat, sondern zumal durch wirtschaftliche Ueberlegungen zu-
geeignet. Auch hier ist er seiner von Rousseau beherrschten Epoche
weit vorausgeeilt ; denn wenn Rousseau die Natur als das Hochste
preist und lehrt, durch sie aufs Neue die Gesellschaft einzurich-
ten, so schreibt ihr Pestalozzi Selbstsucht zu, die die Gesellschaft
zugrunde richtet. Unvergleichlicher aber als in seinen Lehren ist
Pestalozzi durch die immer neuen Einsatzstellen, die er im Den-
ken und im Handeln fur sie entdeckte. Die Unerschopflichkeit
des Urgrunds,. aus welchem seine Worte unberechenbar mit immer
wieder neuen Stossen brechen, gibt dem Bilde, in dem sein erster
Biograph seiner gedacht hat, den tiefsinnigsten Bezug: «Vulkanen
ahnlieh leuchtete er in die Feme und erregte die Aufmerksam-
keit der Neugierigen, das Staunen der Bewunderer, den Forschungs-
geist der Beobachter und die Teilnahme der Menschenfreunde
mehrerer Erdteile.» Das war Pestalozzi: Vulkan und Feldstein.
HEINRICH PESTALOZZI
AN ANNA SGHULTHESS
Wenn ein heiliger Monch in dem frommen Stuhl der
romischen Kirche einem Madchen seine Hand bietet, ohne
eie mit dem rauhen Tuche seiner Kutte zu bedecken, so
muss er Busse tun, und wenn ein Jiingling einem Madchen
von einem Kuss redet, ohne inn zu geben und zu empfan-
gen, so muss er billig Busse tun. Darum tue auoh ich
Busse, dass mein Madchen nicht ziirne. Denn ein Mad-
chen zttrnet zwar nicht, wenn es sieht, dass ein Jiingling
der's wert ist, glaubt, dass sie ihn liebe, aber wenn ein
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J tingling von einem Kuss nur redet, so ziirnet ein Mad-
chen gewiss, denn man kiisst ja nicht einen jeden, den
man liebt und die Kiisse der Madchen sind ja nur auf
den Mund ihrer Freundinnen ibestimomt. Darum ist es eine
grosse, schwere Siinde, wenn ein Jiingling ein Madchen
zu einem Kuss zu verfuhren sucht. Am allermeisten ist
die Siinde gross, wenn er ein einziges Madchen und noch
gaT das Madchen, das er liebt, dazu zu verfiihren sucht.
Ein Jiingling soil auoh ein Madchen, das er liebt, nie-
mals allein zu sehen wiinschen. Der Sitz einer reinen, un-
schuldigen Liebe sind gerauschvolle Gesellschaften und
unsichere Stadtzimmer und das war in allem ein gefahr-
licher Irrlehxer, der «Hutten» fur einen sejour des amants
hielt, derm um Hiitten herum sind ednsame Wege und
Wald und Flur und Wiesen und echattige Baume und
Seen. Die Luft ist da so rein und atmet Freude und Won-
ne und Heiterkeit: wie sollte wohl da ein Madchen den
bosen Kiissen seines Geliebten widerstehen konnen? Nein,
der Ort, wo ein bescheidener Jiingling Seine Geliebte zu
sehen wiinscht, ist mitten in der Stadt. Am heissen Som-
merabend wartet er seiner Geliebten gerade unter den
gliihenden Dachziegeln in einem dunstvollen Zimmer,
wo gegen das Lispeln des Zephyrs Bollwerke von Mauern
getiirmt sind. Hitze und Dampf und Gesellschaft und
Furcht erhalten den Jiingling in ehrbarer, sittsamer Stille
und oft erfolgt da ein Beweis der allergrossten Tugend,
einer auf dem Lande unerhorten Tugend: dass den Jiing-
ling in Gegenwart seiner Geliebten anfangt zu schlafern.
Darum sollte ich Busse tun, denn ich habe einsame
Spaziergange und Kiisse gewiinscht; aber ich bin ein ruch-
loser Sunder und mein Madchen weiss es, es wiirde meine
Busse nur eine heuchlerische Busse heissen und vielleicht
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doch eine andere nicht wiinschen. Darum will ich nicht
Busse tun und wenn Doris ziirnt, will ich auch ziirnen
und ihr dann sagen:
«Was hab' ich getan? Du hast mir den Brief ja ge-
nommen und ohne Erlaubnis gelesen, ex war nicht Dein.
Darf ich nicht schreiben fur mich, auch schreiben und
von Kiissen traumen, wie ich will? Du weisst ja, dass ich
keine gebe, dass ich keine stehle; Du weisst ja, dass ich
nicht kiihn bin; nur meine Feder ist kiihn. Wenn Deine
Feder mit meiner Feder Streit hat, so lasse sie schreiben
und mit papiernen Vorwxirfen meine Papierkuhnheit
strafen. Uns aber geht der ganze Streit nichts an. Lass
Deine Feder, wenn Du willst, uber meine Feder ziirnen.
Dein Gesicht aber zwinge nicht mehr in ziirnende Falten
und lass mich nicht mehr wie heut von Dir weg.»
Ich habe die Ehre, mich Ihnen gehorsamst anstands-
halber zu empfehlen und zeitlebens zu sein
dero gehorsamster Diener
H.P.
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Unbesteehlicher Blick und revolutionares Bewusstsein haben
von jeher vor dem Forum der deutschen Literaturgescbichte einer
Entschuldigung bedurft: der Jugend oder des Genius. Geister, die
kerns von beiden aufzuweisen hatten — mannliche und im strengen
Sinne prosaische, wie Forster oder wie Seurae es waren — haben
es nie zu mehr als einem schemenhaften Dasein in der Vorholle
allgemeiner Bildung gebracht. Da.3S Seume kein grosser Dichter
war, ist gewiss. Aber nicht das unterseheidet ihn von vielen andern,
die an sichtbaren Stellen in der Geschichte der deutschen Literatur
gefiihrt werden, sondern die untadlige Haltung in alien Krisen
und die Unbeirrbarkeit, rait der er — da er nun einmal von hessi-
schen Werbern unter das Militar war verschleppt worden — in sei-
ner Lebensfiihrung jederzeit den wehrhaften Burger darstellt, lange
nachdem er den Offiziersrock abgelegt hatte. Was das achtzehnte
Jahrhundert unter dem «ehrlichen Mann» verstanden hat, das kann
man an Seume gewiss so gut wie an Tellheim ablesen. Nur dass
Seume die Ehre des Offiziers nicht so weit ab von der des Rau-
bers, wie seine Zeitgenossen ihn in Rinaldo Rinaldini verehrten,
gelegen hat, so dass er auf dem Spaziergang nach Syrakus gestehen
kann: «Freunde, wenn ich ein Neapolitaner ware, ich ware in Ver-
suchung, aus ergrimmter Ehrlichkeit ein Bandit zu werden und mit
dem Minister anzufangen». Auf dieseni Spaziergang hat er die
Nachwirkungen der ungliicklichen Beziehung zu der einzigen Frau
Sberwunden, der er naher, nicht einmal nahe getreten ist und die
an seine Stelle auf verletzende Weise den Mann berief, an welchen
der folgende Brief gerichtet ist. Wie diese Ueberwindung sich voll-
zog, erzahlt er gelegentlich der Beschreibung seines Aufstiegs auf
den Pelegrino in der Nahe Palermos. Im Ausschreiten zog er, seinen
Betrachtungen folgend, ein Amulett mit dem Bild der Frau hervor,
von dem er sich durch all die Jahre nicht hatte trennen konnen.
Wie er es aber zwischen den Fingern hielt, gewahrte er auf einmal,
dass es zerbrochen war, und so warf er die Stiicke samt der Fassung
in den Abgrund hinunter. Das ist das Motiv des gross-
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artigen, wahrhaft taciteischen Epigraphs, das er an dieser Stelle
seines Hauptwerks seiner Liebe errichtet hat: «Ehemals ware ich
ihrem Bildchen nachgesprungen; auch jetzt noch dem Original!*
JOHANN GOTTFRIED SEUME
AN DEN GATTEN SEINER FRuHEREN
VERLOBTEN
Mein Herri
Wir kennen einander nicht; aber die Unterschrift
wird Ihnen sagen, dass wir einander nicht ganz fremd
sind. Meine ehemaligen Verhaltnisse zu Ihrer Frau kon-
nen, diirf en und miissen Ihnen nicht unbekannt eein. Sie
wiirden vielleicht nicht iibel getan haben, meine Bekannt-
schaft friiher gemacht zu haben; ich store Niemandes
Gliick. Ob Madam gegen mich ganz gut gehandelt hat,
kann ich nicht entscheiden, eben so wenig als Sie; da
wir Beide nicht gleichgiiltig sind. Ich vergebe ihr gern
und wunsehe ihr Gliick; es war ja nie etwas Anderes der
Wunsch meines Herzens. Einige meiner Freunde wollen
mir Gliick wiinschen, dass die Sache so gekommen ist; sie
iiberzeugen fast meinen Kopf ; aber mein Herz hlutet bei
der Ueberzeugung. Da Sie mich nicht kennen, diirf en Sie
fiber mich nicht urteilen. Ich bin weder Antonius noch
Aesop, und Mademoiselle Roder muss doch vorziiglich
den ehrlichen, guten Mann zu sehen geglaubt haben, als
sie mir sehr teuere Versicherungen gab. Doch stille davon!
Ee geziemt mir nicht, mich zu rechtfertigen, und noch
weniger, Andere anzuklagen. Was die Leidenschaft tat,
hat — die Leidenschaft getan. Ich bin nicht Ihr Freund,
das leiden die Verhaltnisse nicht; da ich aber ein ehr-
licher Mann bin, ist es fur Sie so gut, als ob ich es ware.
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Sie selbst, meiii Herr, haben ibei der Sache als ein junger,
nicht ganz ernsthafter Mann gehandelt. Ich wiinsche
Ihnen Gliick; Sie haben das notig. Ihre Frau ist gut, ich
habe sie tief beobachtet, und ich wiirde nicht imstande
gewesen sein, mein Herz an eine Unwiirdige zu verlieren.
Dass zwischen uns nichts Strafbares vorgefallen ist, dafiir
muss Ihnen mein Charakter und meine jetzige Handlungs-
weise biirgen, — Sie miissen ihr manchen Fehler vergeben
und selbst keinen begehen. Es ist mir daran gelegen, dass
Sie Beide gliicklich sind; das wird Ihnen begreiflich sein,
wenn Sie etwas vom Herzen des Menschen wissen und
mich nicht fiir einen ganz gewohnliehen Menschen halten.
Ich werde hochst wahrscheinlich unterrichtet sein, wie
Sie leben, so weit man im allgemeinen unterrichtet sein
kann, denn ich bin in Berlin, wo ich oft war, nicht ganz
Fremdling. Ich kann nun einnial nicht wieder gleichgiiltig
werden, das hatte Madam ehemals glauben und ihre
Massregeln zur Zeit nehmen sollen. Das Schrecklichste
wiirde mir eein, wenn Sie je eine Ehe nach der Mode fiih-
ren aollten. Ich bitte Sie bei Ihrem Gluck und bei dem
Rest von meiner Ruhe, noch mehr aber bei dem Gluck
der Person, die uns teuer sein muss, nie — nie leichtsinnig
zu sein, Sie sind Mann; von Ihnen hangt Alles ab. Wenn
Wilhelmine je von ihrem Charakter sinken konnte, ich
wiirde den meinigen furchterlich rachen. Verzeihen Sie
und halten das nicht fiir Impertinenz. Sie miissen Zeiten
und Menschen kennen. Furcht gibt Sicherheit. Ich werde
mit meinem Willen Ihre Frau nie wieder sehen. Wenn Sie
selbst Ihre Pflichten immer erfiillen, so fiihren Sie ihr
immer in einer ernsthaiften Stunde mein Andenken wie-
der zu. Es kann ihr heilsam werden und soil Ihnen nicht
schaden. In meiner Seele kann in diesen Verhaltnissen
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nur Liebe oder Verachtung wohnen; ich kenne mich;
die erste kann nur mit dem Stufenjahre Freundschaft
werden, und der Himmel bewahre Sie und mich vor der
zweiten: ihr Vorbote wiirde schrecklich sein.
Ich kann aus der Seele des Weibes heraus lesen, was
Madam jetzt iiber mich oder wohl auch wider mich sagen
wird, und ich wiinsche aufrichtig, dass sie nie mit Reue
an mich zu denken babe. E.s ist Ihr eigenes Interesse, mein
Herr, da-fur mit bestandiger Aufmerksamkeit zu sorgen.
Hochst wahrscheinlich kann ich Ihnen nie einen
Dieost leisten, so wenig als Sie mir bei meiner Denkungs-
art. Sollten Sie aber je glauben, dass ich es konnte, eo hatte
ich in mir Ursache genug, es mit Vergniigen und Eifer zu
tun. Ich erwarte weder Antwort noch Dank ; sehen Sie nur
das, was ich so kalt als moglich sagte, mit meiner Seele
oder nur mit gehorigem Gleichmut an, und Sie werden
alles sehr natiirlich finden.
Ich versichere Sie herzlich meiner volligen Achtung,
und es muss Ihnen daran gelegen sein, sie zu verdienen.
Leben Sie wohl und gliicklich! Audi dieser Wunech geht
ganz von Herzen, ob er gleich mit etwas mehr Wehmut
geschieht, als der Mann fiihlen sollte.
Grimma. Seume.
Was Johann. Heinrich Voss im nachfolgenden Brief seinem
Freunde Jean Paul mitteilt, fiihrt den Leser an die Quelle der
deutschen Wiedergeburt von Shakespeare. Der Schreiber, der zweite
Sohn des Homer-Uebersetscers Johann Heinrich Voss, war kein
iiberragender Geist. «Ihm fehlte eine selbstandige, energisch auf
das Ziel losdringende Natur. Die kindliche Liebe und Verehrung,
die er fiir seinen Vater hegte, raubte ihm schliesslich jede geistige
Unabhangigkeit. Wie sein Vater ihm als hochstes Vorbild gait,
so fftgte er sich widerspruchslos seinen Ansehauungen und war
zufrieden, wenn er mit matterer Stiinme die Meinungen des Alten
nachsprechen, ihm die Beantwortung eines Briefes abnehmen oder
bei seinen Studien dienend helfen konnte.» Die grosste Freude
seines Lebens mag er gehabt haben, als es ihm gelungen war, den
Vater, erst duldend, dann auch tatig, seiner Shakespeareiibersetzung
zu gewinnen. — Wie es nun aber die Art der natiirlichen Quellen
ist, dass sie aus den verlorensten Rinnsalen, aus namenloser
Feuchte, aus kaum netzenden Wasseradern sich speisen, so auch
die der geistigen. Die leben nicht nur von den grossen
Leidenschaften, denen Same und Blut entquellen, noch weniger
von den vielberufenen «Einfliissen», sondern auch vom Schweiss
des miihsamen Alltags und den Tranen, die aus der Begeisterung
fliessen: Tropfen, die sich dann bald im Strom verlieren. Der
folgende Brief — ein einzigartiges Zeugnis fiir die Geschichte des
deutschen Shakespeare — hat ihrer einige aufbehalten.
JOHANN HEINRICH VOSS AN
JEAN PAUL
Heidelberg, 25. Dezember.
Der heutige und gestrige Tag haben mich zuriickver-
setzt in die friiheren Jahre der Kindheit, und ich kann
nocli gar nicht heraus. Ich weiss noch, mit welcher Ehr-
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furcht ich des Christkindes gedaehte, das ich mir als einen
violetten kleinen Engel mit rotgoldenen Fliigeln vor-
stellte, aber seinen Namen wagte ich nicht auszuspreehen;
bloss gegen meine Grossmutter konnte ichs, die mir noch
ehrwiirdiger schien. Mehrere Tage vor dem Heiligen
Abend war ich still in mich gekehrt, aber nie ungeduldig.
Riickte aber die heilige Stunde heran, da wuchs die Un-
geduld fast bis ram Zerspringen des Herzens. O wie viele
Jahrhunderte vergingen, bis endlich die Glocke erschallte.
— In spateren Jahren gewannen meine Weihnachtsfreu-
den andere Gestalt, seitdem Stolberg in Eutin lebte, den
ich ganz unaussprechlich liebte, in dessen Gegenwart zu
eein, ich, der spielfrohe, jedem Kinderspiele vorzog, des-
sen Handedruck mich bis ins innere Mark durchschauerte.
Dieser Mann gab mir sehr friih Unterricht im Englischen,
und als ich vierzehn Jahre alt war, forderte er, ich sollte
Shakespeare lesen und mit dem Storm anfangen. Das ge-
schah, etwa sechs Wochen vor Weihnachten, und am
zweiten Weihnachtstage war ich bis an die Maske von
Ceres und Juno gekommen.* Damals war ich sehr krank-
lich. Meine Mutter hatte Stolberg gebeten, er mochte mich
dann und wann auf Spazierfahrten mitnehmen. Das ge-
schah an diesem Tage. Eben wollte ich anfangen, die
Maske zu lesen, da hielt der Wagen und Stolberg rief mir
freundlich zu: «Komm, lieber Heinrich». Und ich, wie
ein Rasender, stiirzte ich hinaus in den Wagen hinein.
Nun wogte und wiihlte es in meinem Herzen. Himmel,
wie schwatzte ich dem armen Stolberg die Ohren voll von
Shakespeare; und der freundliche Mann liess sich alles
gefallen, und war imr froh, dass Shakespeare bei mir
Feuer gefangen. Als wir zuriickfuhren, war meine einzige
* Die Geiater, die Ariel fiir Ferdinand und Miranda beschwort.
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Sorge, der Wagen mochte vor zwolf Uhr, unserer Essens-
zeit, an unserer Tiir halten. Aber Gottlob ! eg schlug halb
eins, als wir noch bei der Fissauer Briicke waren. Nun
durfte ich bei Stolberg essen. Ich sass neben ihm, und
weiss noch die Gerichte. Wie schmeckte mir nun der
Shakespeare, als ich in der Dammerung zu ihm zuriick-
kehrte. Seit der Zeit sind Shakespeares Sturm, Weihnach-
ten und Stolberg in meiner Phantasie ununterscheidbar
verschmolzen oder in eins gewachsen. Kommt der heilige
Christ, so muss ich, durch innere Notwendigkeit getrieben,
den Sturm lesen, wiewohl ich ihn auswendig weiss, und
auf der Zauberinsel jedes Graschen und Halmchen kenne.
Und das, Du theurer Jean Paul, soil heute Nachmittag
vooa neuem geschehen. Fiele meine Todesstunde aufs
Christfest, sie wiirde mich bei Shakespeares Sturm iiber-
raschen.
Unter den Holderlin'schen Briefen aus dem Jahrhundertanfang
gibt es kaum einen, der nicht Satze entliielte, die hinter den blei-
benden seiner Gedichte in nicbts zuriickstehen. Und doch ist nicht
dieser anthologische Wert ihr hochster. Vielmehr ist es ibre einzig-
artige Transparenz, dank deren die scblichten hingebenden
Briefe den Blick ins Innere von Holderlins Werkstatt frei-
geben. Die «Dichterwerkstatt» — selten mehr als eine abgenutzte
Metapber — bier kommt die Wendung zu ibrem Sinn, indem es
fiir Holderlin in jenen Jahren keine sprachliche Verricbtung, und
sei es die alltagliche Korrespondenz, mehr gibt, der er nicbt mit
der meisterhaften, prazisen Technik seiner spaten Dichtungen
nachginge. Die Spannung, die so in seine Gelegenheitsschreiben
kommt, riickt noch die unscheinbarsten Geschaftsbriefe, geschweige
denn die Briefe an die Seinen, in die Nahe so ungewohnlicher Do-
kumente, wie es die folgende Nachricht an Bohlendorf ist. Gasimir
Ulrich Bohlendorf (1775 — 1825) war Kurlander. «Wir baben ein
Schieksal» hat ibm Holderlin eiranal geschrieben. Das Wort be-
stebt, sofern es das Verhaltnis betrifft, in das die aussere Welt zu
einem enthusiastischen, verwundbaren Gemiit trat. So wenig im
Dichterischen zwisehen beiden aueh nur die geringste Analogic
obwaltet, — das Bild des unsteten, wandernden Holderlin, das der
folgende Brief bewahrt, taucht scbmerzhaft vergrobert in dem
Nachruf aiif, den ein lettisches Zeitungsblatt Bohlendorf widmete:
«Gott hatte ibm eine besonders gute Begabung mitgegeben. Aber
er wurde geisteskrank, und da er iiberall fiirchtete, dass die Men-
schen ihm seine Freiheit nehmen wollten, wanderte er mehr als
zwanzig Jabre umher, viele Male ganz Kur- und einige Male auch
Livland zu Fuss durchquerend. Der verehrte Leser wird ihn, mit
dem Biindel mit Biichern auf der Landstrasse wandernd, gesehen
haben.» — Holderlins Brief nun ist ganzlich auf jene Worte ausge-
richtet, welche die spaten Hymnen beherrschen: heimatliche und
griechische Art, Erde und Himmel, Popularitat und Zufriedenheit.
Auf scbroffen Hohen, wo der nackte Fels der Sprache schon iiber-
all an Tag tritt, sind sie, trigonometrischen Signalen gleich, «die
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hochste Art des Zeichens» und an ilinen vermisst der Dicliter die
Lander, welche «die Herzens- und Nahrungsnot» ihm er-
offnete als Provinzen des griechischen. Nicht des bluhenden
idealen, sondern des verodeten wirklichen, dessen Leidensgemein-
schaft mit dem abendlandischen und vor allem dem deutschen
Volkstum das Geheimnis der historischen Wandlung, der Trans-
substantiation des Griechentums ist, das von Holderlins Ietzten
Hyranen den Gegenstand bildet.
FRIEDRICH H5LDERLIN
AN CASIMIR BoHLENDORF
Niirtingen, den 2. Dezember 1802.
Mein Teurer!
Ich babe Dir lange nicht geschrieben, bin indes in
Frankreich gewesen und habe die traurige einsame Erde
gesehen; die Hiitten des stidlichen Frankreichs und ein-
zelne Schonheiten, Manner und Frauen, die in der Angst
des patriotischen Zweifels und des Hungers erwachsen
eind. Das gewaltige Element, das Feuer des Himmels und
die Stille der Menschen, ihr Leben in der Natur, und
ihre Eingeschranktheit und Zufriedenheit, hat mich be-
standig ergriffen, und wie man Helden nachspricht,
kann ich wohl sagen, dass mich Apollo geschlagen.
In den Gegenden, die an die Vendee grenzen, hat mich
das Wilde, Kriegerische interessiert, das rein Mannliche,
dem das Lebenslicht unmittelbar wird in den Augen und
Gliedern und das im Todesgefiihle sich wie in einer Vir-
tuositat ftihlt, und seinen Durst zu wissen, erfullt. Das
Athletische der siidlichen Menschen, in den Ruinen des
antiken Geistes, machte mich mit dem eigentlichen Wesen
der Grieehen bekannter; ich lernte ihre Natur und ihre
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Welsh eit kennen, ihren Korper, die Art, wie sie in ihreni
Klima wuchsen, und die Regel, womit sie den ubermiiti-
gen Genius vor des Elements Gewalt behiiteten. Dies be-
stimmte ihre Popularitat, ihre Art, fremde Naturen an-
zunehmen und sich ilmen mitzuteilen. Darum baben sie
ihx eigentiimlich Individuelles, das lebendig erscheint,
sofern der hochste Verstand im griechischen Sinne Re-
flexionskraft ist, und dies wird uns begreiflich, wenn wir
den heroischen Korper der Griechen begreifen; sie ist
Zartlichkeit, wie unsere Popularitat.
Der Anblick der Antiken bat mir den Eindruck ge-
geben, der mir nicht allein die Griechen verstandlicher
macht, sondern iiberhaupt das Hochste der Kunst, die
auch in der hochsten Bewegung und Phanomenalisierung
der Begriffe und alles ernstlich Gemeinten dennoch alles
stehend und fur sich selbst erhalt, so dass die Sicherheit
in diesem Sinne die hochste Art des Zeichens ist. Es war
mir notig nach manchen Erschiitterungen und Riihrun-
gen der Seele mich f estzusetzen auf einige Zeit, und ich
lebe indessen in meiner Vaterstadt.
Die heimatliche Natur ergreift mich umso machtiger,
je mehr ich sie studiere. Das Gewitter, nicht bios in seiner
hochsten Erscheinung, sondern in eben dieser Ansieht, als
Macht und als Gestalt, in den iibrigen Formen des Him-
mels, das Licht in seinem Wirken, rationell und als Prin-
?,ip und Schicksalsweise bildend, dass uns etwas heilig ist,
sein Gang im Kommen und Gehen, das Charakteristische
der Winder und das Zusammentreffen in einer Gegend
\on verschiedenen Cbarakteren der Natur, dass alle hei-
ligen Orte der Erde zusammen sind um einen Ort und das
philosophische Licht um mein Fenster sind jetzit meine
Freude; dass ich behalten moge, wie ich gekommen bin,
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bis hieher! Mein Lieber! icli denke, dass wir die Dichter
bis auf unsere Zeit nicht kommentieren werden, sondern
dass die Sangart iiberhaupt wird einen anderen Charak-
ter nehmen, und dass wir darum nicht aufkommen, weil
wir, seit den Griechen, wiedsr anfangen, vaterlandisch
und natiirlich, eigentlicb originell zu singen.
Schreibe doch nur mir bald. Ich brauche Deine reinen
Tone. Die Psyche unter Freunden, das Entstehen des Ge-
dankens im Gesprach und Brief ist Kiinstlern notig.
Sonst haben wir keinen fiir uns selbst, sondern er gehoret
dem heiligen Bilde, das wir bilden. Lebe recht wohl!
Dein H.
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Im Februar 1803 schrieb Brentano an Arnim von einem kleinen,
etwas faden Brief der Mereau und seiner Antwort darauf aus vollem,
wahrem Herzen: «Ohne Schonung fur mich und sie, wie ein geist-
reicher Dritter, alles mit den scharfsinnigsten Nuancen ausgefiihrt,
ihre Geschichte in dreierlei Gestalt, voll Mutwill, wahr bis zur Zote,
Erklarang meines grossen Lustens, sie zu beschlafen, Trauer iiber
ihr Alter und ihre unendlich schlechten Verse, iiberhaupt der freiste,
kiihnste und gliicklichste Brief, den ich je geschrieben, und der
langste, er schloss mit einigen briinstigen Handwerksburschen-
Liedern». Und dann, vier Jahre spater: «Sophie, die mehr zu leben
verdiente als ich, die die Sonne liebte und Gott, ist schon lange
tot. Blumen und Gras wachsen iiber ihr und dem Kinde, welches
getotet durcb sie sie totete. Blumen und Gras sind sehr traurig fiir
mich!» Dies Eintritts- und Ausgangspforte des kleinen Irrgartens
von Clemens Brentanos Ehe mit dem Standbild des ersten Sohnes
in seiner Mitte. Archim Ariel Tyll Brentano nannten die Eltern
ihn — Namen, die keine. Anweisung auf die irdiscbe Existenz, son-
dern Fliigel sind, auf denen das Neugeborene bald wieder heim-
kehrte. Als mit dem ungliicklichen Erscheinen des zweiten Kindes
nun das Ende gekommen 'war, schien mit dem Tode der Frau, an
deren Seite Brentano das Leben gar nicht leicht ertragen hatte,
alles iiber ihm zusammenzubrechen. Er sah sich grenzenlos ver-
einsamt, und die Wirren, in die das Land nach der Niederlage von
Jena und Auerstadt verfiel, raubten ihm selbst den Vertrautesten :
Arnim, der dem Konig nach Ostpreussen gefolgt war. Von da
schrieb er, im Mai 1807, ein halbes Jahr nach Sophiens Tod, an
Brentano: «Ich setze oft an, Dir so vieles zu schreiben, was ich
auf dem Heraen habe. Aber die Idee, dass ich umsonst schreibe,
dass meine Worte von Andern gelesen werden, verleidet es mir
gleich. Es ist noch ein Umstand, der, mir zweifelhaft, wie ein schnell-
geschwungenes scharfes Schwert alles zwischen uns bewegt. Es
sollte mir wehe tun, wenn es wahr ware, und ich Dir etwas trau-
riges zuriickriefe. Der verstorbene brave Doktor Schlosser, der
Jenenser, sagte mir etwas von dem Tode Deiner Frau, den er he-
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hauptete in einer Zeitung gelesen zu haben. Wir sind hier von
allem abgesdhnitten, ich mochte sagen, von der Zeit; doch hatte
ich eine Zuversicht und behalte sie, Deine Frau miisse leben.» Aus
diesen Worten ist zu entnehmen, dass die Bitte des ergreifenden
Briefs, der hier folgt, umsonst war. Er ist, soviel sich nach genauen
Ermittlungen feststellen liess, ungedruckt und daher diplomatisch
getreu wiedergegeben.
CLEMENS BRENTANO
AN DEN BUCHHANDLER REIMERS
Verehrter Herr!
Legen Sie diese Zeilen nicht bei Seite, erkundigen Sie
sich und melden Sie mir, wo Ludwig Achim von Arnim
ist, dessen Freundschaft fiir mich Ihnen bekannt ist, er ist
mir ausser Sophien, die ich auf eine bo traurige Art nebst
dem Kinde in schwerer Geburt verlor, immer alles gewe-
sen, was ich liebte, seit dem 19. Oktober weiss ich nichts
von ihm, und vom 19. Oktober selbst nur, dass er diesen
Tag in Halle war, mein mit Schmerz ganz vergiftetes Ge-
miith hat mit Ihm auch Alles aus dem Gesichte verlohren,
wass ans Leben kniipfen konnte; Sie sind mir durch ihn
selbst, als ein trefflicher Mann bekannt, und Sie sollen
glauben, dass ich ganz unendlich ungliicklich bin, ja so
(im) Jammer, dass ich durch ihn durchwandlen kann,
wie durch eine Holle, die unendlich ist, und Sie sollen
mir daher bald, gleich, oder nur sobald, als es ihre gute
Gesinnung Sie zu thun zwingt, melden, wo Arnim wahr-
scheinlich ist, und ob man ihm schreiben kann, ob ihm
jemand von Berlin schreibt, Sie konnen das gewiss erfah-
ren, und es ist Ihnen dann so sehr leicht, mir durch eine
Nachricht davon in wenigen Zeilen, wenigstens den Nah-
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men einer Stadt zu nennen, wohin ich denken kann, ach
so wie mir jetzt ist, da ich schwebe mitten in tiefem Gram,
ist es mir unendlich viel, in dieser Endlichkeit, nur zu
wissen, ob jemand noch lebt, der mich liebte.
Wenn Sie mir schreiben, so melden Sie mir auch, wie
viel Sie an Meine Frau fiir die Fiametta schon bezahlt
haben, und wass Sie noch bekommt, auch wenn Sie es
gern bezahlen, so will ich Ihnen zu jener Zeit melden, an
wen Sie es in dortiger Gegend bezahlen konnen, dieses
Geld gehort meiner kleinen Stief tochter, die hier bei Mad.
Rudolphi erzogen wird, und ich muss daher es besorgen,
dieses bloss zu bescheidener Erinnerung.
Ihr ergebener
Clemens Brentano.
Heidelberg, 19. Dec. 1806.
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«Ritter ist Hitter und wir sind nur Knappen. Selbst Baader ist
nur sein Dichter», schreibt Novalis am 29. Jamiar 1799 an Caroline
Schlegel. Was Ritter und Novalis miteinander verband, ist von der
Art, dass dies Wort mehr enthalt als eine Rangbestimmung von
Ritters Tatigkeit fiir die Romantisierung der Naturwissenschaften;
es zielt zugleich auf die mensehliche Haltung, die wohl bei keinein
Romantiker vornehmer und gegenwartsfremder zugleich war. Im
Grunde haben beide, menschlicher Rang und wissenschaftliche Hal-
tung des Physikers, bei Ritter sich aufs innigste durchdrungen,
wie es in dem Selbstzeugnis sich bekundet, in welchem er den grei-
sen Herder zum Urahnen seiner Forschung gemacht hat: Herder,
den man als Schriftsteller haufig habe treffen konnen, «besonders
in der Woche ; als Menschen aber, weit iiber alle seine Werke er-
haben, habe man ihn Sonntags finden konnen, wo er, seinem
Schopfer folgend, ruhte und den Tag im Schosse seiner Familie
verbrachte; nur «Fremde durften dann nicht bei ihm sein. Gleich
herrlich und gbttlich sei er erschienen, wenn er. was er sehr liebte,
an einem schonen Sommertage eine landliche Gegend, zum Beispiel
das sehone Waldchen an der Ilm zwischen Weimar und Belvedere,
besuchte, wohin dann aber ausser seiner Familie ihm nur folgen
durfte, wen er ausdriicklich einlud. An solchen Tagen dann, den
einen oder andern, sei er wirklich wie ein Gott erschienen, der von
seinen Werken rube, nur doch als Mensch, die seinigen nicht, son-
dern die des Gottes selbst erhebend und preisend. Mit Recht dann
habe iiber ihm der Himmel zum Dome sich gewolbt, und selbst des
Ziminers starre Decke habe nachgegeben; aber der Priester darin
sei nicht aus diesem Land noch dieser Zeit gewesen; Zoroasters
Wort stand auf in ihm, und stromte Andacht, Leben, Friede und
Freude in die ganze Umgebung; so ward in keiner Kirclie Gott ge-
dient, wie Mer, — wo sich erwies, dass nicht das Volk, sondern der
Priester, sie fiille. Hier — wiederholte N. unzahlige Male — hier
habe er gelernt, was die Natur, der Mensch in ihr, und eigentliclie
Physik, seien, und wie die letztere Religion unmittelbar*. Der N.,
von dem hier die Rede ist, ist Ritter selbst, wie er in seiner ebenso
49
rfickhaltlosen wie keuschen, schwerfalligen wie abgriindigen Natur
in der Vorrede der «Fragmente eines jungen Physikers^ (Heidel-
berg 1810) sich dargestellt hat. Der unverweehselbare Ton dieses
Mannes, der diese verschollene Vorrede zur bedeutendsten Bekennt-
nisprosa der deutschen Romantik macbt, findet sich auch in sei-
nen Briefen, von denen nicht viele sich scheinen erhalten zu haben.
Der folgende ist an den Philosophen Franz von Baader gerichtet,
der wahrend seiner zeitvweilig einflussreichen Stellung in Miin-
chen etwas fiir den schwer kampfenden Jiingeren zu tun unternahm.
Und gewiss war es nicht leicht, fiir einen Mann zu wirken, der von
seinen. «Fragmenten3> sagen durfte, dass es bei ihnen «schon von
selbst ehrlicher gemeint sein musste, als es so leicht geraeint ist,
wenn man bloss fiir das Publikum, also offentlich, arbeitet. Denn
so stent eigentlich niemand zu, als, wenn es erlaubt ist, ihn zu
nennen, der liebe Gott, oder, ist's anstandiger, die Natur. Andere
<Zuschauer»' haben noch nirgends viel getaugt, und auch ich habe
mit vielen andern empfunden, dass es Werke und Gegenstande
gibt, die nicht gelungener ausgefiihrt werden, als wenn man tut,
als schreibe man fiir gar niemand, auch nicht einmal fiir sich selber,
sondern eben fiir den Gegenstand selbst.» Ein schriiftstellerisches
Credo dieser Art hat schon damals seinen Bekenner in Not ge-
bracht. Aber er fiihlte nicht sie allein, sondern, wie der folgende
Brief erweist, auch das Recht, sich auszusprechen, das sie verleiht
und die Kraft dazu: amor fati.
JOHANN WILHELM RITTER AN
FRANZ VON BAADER
Den 4. Januar 1808.
Fiir Ihr Schreiben von voriger Woche sage ich Ihnen
den verbindlichsten Dank. Sie wissen ein fiir allemal, dass
ich Erinnerungen, wie es enthalt, immer am liebsten von
Ihnen erhalte. Hier kommen sie mir wie im eigenen Ge»
miit entstanden vor, und ich behandle sie auch so.
50
Mit nichts belegen Sie besser, dass Sie mich kennen,
als wenn Sie das alles, worin Sie mich unmassig schelten
mussen, doch noch Studien ,neimen. Ich habe vielleicht
fast alles erlebt, was man bis zu meinen Jahren erleben
kann; vieles habe ich nie gesucht, aber dagegen oft auch
absichtlich mich nicht zuriickgehalten, dies und jenes ge-
schehen lassen. Ich suohte wahrscheinlich in alien nur das
Eine Bleibende, ohne was kein ehrlicher Mensch sein
kann, nur dass ich um so vorbereiteter dazu kommen
wollte, je verwickelter ich es — mir — seit der friihesten
Beskmung voraussah. Auch halte ich es von grosserem
Lohn, «gelebt» als bloss gewusst zu haben.
Was Sie von Zulassung ausserer Ueberreizungen sa-
gen, gehort ram Teile auch dahin; ich will keineswegs
sagen ganz. Es konnen wenige nach dem, was ich sehe, die
natiirliche Geschichte des mannlichen Lehens ernstlicher,
tiefer, ehrlicher vor Gott, und eich selbst eingiestehender,
begonnen und fortgesetzt haben als ich. Suchen Sie in
dieser Aeusserung nichts weniger als Eigendiinkel, son-
dern blosaes Resultat aus einer nicht ganz beschrankten
Beobachtung, erlaubt, es auszusprechen, wo es notig ist. —
Uebrigens sehe ich das Ganze so als notwendigen Teil
in das Fatum meines Streberts verwebt, dass ich ihn noch
dazu als den vornehmsten, den im Geheimen Basis ge-
benden betrachten muss. Ob unter aolchen Umstanden
ich hier unmassig werden und gewesen sein konne, will
ich selbst zwar nicht entscheiden, schwer zu glauben wird
es mir.
Nach Allem habe ich somit wohl Grund, die letzte
Ursache meiner Kranklichkeit, die erst seit einigen Jahren
angefahgen hat, tiefer zu suchen. Ich glaube sie ausserst
leicht angeben und treffen zu konnen. Kummer und Sor-
51
gen. sind es; meine okonomischen Verhaltnisse driicken
mich. Das hat trotz alles Gegenstrebens, endlich auch den
Korper getroffen. Sobald sich hierfiir erne radikale Kur-
methode entdeckt, sobald auch werde ich durchgangig
geheilt sein. — Wie ich zu meinen Schulden gekommen,
davon weiss ich die Rechenschaft und die Rechtfertigung
wohl, aber sie lasst sich nicht jedem. geben. Gliicklich,
dass ich selbst sie mir geben kann. Sie verstehen mich
hier gewiss. Es gibt Dinge, die um keinen Preis zu teuer
sind; es gibt ein Gut, um dessenwillen man selbst Men-
schen, dem Scheme nach, betriigen kann. Ich sage aus-
driicklich: dem Scheine nach. Der Betrug ist gar nicht
holier als der des Kaufmanns, der fiir eine gewiss durcli-
gehende Spekulation von mehr Kredit Gebrauch macht,
als ihm sonst zukame.
In praktischen Arbeiten war ich auch gehindert, da
man hier bekanntlich noch gar nicht weiss, was man sich
dergleichen muss kosten lassen. Wieviele schone Arbeiten
liegen entworfen da! Aber mit 100, auch 300 £1. sind sie
noch nicht auszufiihren, die Gulden aber selbst schon
Summen, vor denen man an einem Orte erschrickt, an
welchem nie ein wissensehaftliches Corps und ein Esprit
desselben gedeihen kann.
Was unter solcben Umstanden kann mir aus Vor-
lesungen, jetzt, fiir irgend ein echter Nutzen entstehen!
Ich weiss, dass ich Zuhorer haben wiirde, wie Sie und
Schelling, und vielleicht ein Dritter noch, und mit Freu-
den wollte ich sehen, ob ich nicht alles liegen lassen
konnte, wareii Sie allein diese meine Zuhorer. Aber Sie
allein werden das nicht sein; gerade was ohne Frage den
Ausschlag geben soil, ist eine grosse Anzahl anderer Per-
sonen, die nicht sind, wie sie die genannten Drei ; sage ich
52
denen, was Sie verstehen, so verstehen sie wieder nichts,
«nd spreche ich, dass diese es verstehen, so wird mir Angst,
Sie nur im Zimmer zu sehen, etwas, das ich schon aus
mehreren Anwandlungen kenne. Was iibrig bleibt, ist im-
mer ein Mosses «seine Kunste «ehen lassen».
Aber es ist Zeit, dass ich schliesse. Verzeihen Sie den
langen Brief. Es kam mir diesmal das Schreiben schick-
licher vor als das Sprechen, zumal Sie wie ich verhindert
waren, Gelegenheit zum letzteren zu gehen.
53
Es war im Leben Goetb.es eines der folgenreichsten Ereignisse,
dass es den Briidern Boisseree mit unvermutbarem Gliick gelang,
das Interesse des 62jahrigen noch einmal dem Mittelalter zu ge-
winnen, aus dessen Entdeckung die Strassburger Manifeste «von
deutscher Art und Kunst» entsprungen waren. In den Weimarer
Maitagen, in welche der folgende Brief fallt, ist — so darf man
vermuten — die Vollendbarkeit des zweiten Teils des Faust ent-
schieden worden. Der Brief ist aber nicht nur ein literarhistorisches
Dokument ersten Ranges als Zeugnis, mit welchem Bangen das
ausserordentliche Experiment, den katholischen Bilderkreis dem
Blick des alten Goethe zu unterbreiten, unternommen wurde — er
zeigt zugleich, wie sehr die Existenz dieses Mannes ordnend und
richtunggebend noch in fernliegende Bezirke hineinwirkte. Dass
dies hier nicht feierlich, sondern vielmehr trotz der Souveranitat
und Reserve, mit der der auswartige Freund Boisserees vorgeht,
zum Ausdruck kommt, ist vielleicht das Schonste an diesen Zeilen,
BERTRAM AN SULPIZ BOISSEREE
Heidelberg, den 11. Mai 1811.
Dein Gliick bei Goethe, so preislich Du es auch in
den brillantesten Ziigen herausstreichst, kommt mir nicht
unerwartet, Du. weisst, wie ich in Hinsicht der ausseren
Vertraglichkeit liber den alten Herrn denke; doch ge-
falle Dir nur nicht zu eehr in der vornehm gelehrten
Rolle, die Du angenommen hast, und bedenke, wie in al-
ien menschlichen Dingen, das Ende. Wenn Du nur
Schwarz auf Weiss Dir herausreden kannst, erst dann will
ich Dich nach alien Kraften riihmen und preisen. Seit
das Kantische Prinzip der Zweckmassigkeit ohne Zweck
54
wieder aus der Mode gekommen, finde ich das rein asthe-
iische Wohlgef alien uberall in diesem interessierten Zeit-
alter malplaciert, und denke im Gegensatz des Evange-
liums: gebt una nur erst alles Andere, das Himmelreich
wollen wir schon selbst zu finden trachten. Indessen ist
es denn doeh kein kleiner Triumph f iir den Ernst und die
Redlichkeit Deities Strebens, mit eineni so boch beriihm-
ten und mit Recht verehrten Mann, urn dessen Beifall ge-
wichtigere Manner wie Du, vergebens in Kunet und Wis-
senschaft sich bemiiht haben, auf diesem Punkte geistiger
Vertraulichkeit und Gemeinschaft zu stehen. Auch mochte
ich Dich heimlich beschauen, Du warst gewise innerlich
so gepudert, mit Stern und Ordensband geziert und echim-
merst so sehr in fremdem und eigenem Lichte, dass Du
in der Dunkelheit Deines Wirtsstubchens ganz transpa-
rent erscbeinen musst. Wenn uns einmal etwas in der Welt
gelingen sollte, liebes Kind, ohne Miibe und Anstrengung,
in Lust und Freude haben wir es nicht errungen, unter
driickenden biirgerlichen und hauslichen Verhaltnissen,
im Widerstreit gegen langjahriges Vorurteil, gegen Apa-
tbie und Unempfindlichkeit fiir das Hohere, von Leiden
und Trubsalen aller Art bedrangt, haben wir unsern Weg
im Stillen fortgesetzt, ohne andere Aufmunterung und
Unterstiitzung, als die des innem besseren Bewusstseyns,
und des treuea beharrlichen Sinnes, der durch den Nebel
der Zeiten wohl getriibt, aber nicht erstickt und vernichtet
werden kann, Wie denk' ich mit freudiger Erhebung zu-
riick an die ersten Zeiten unserer Bekanntsehaft, die stil-
len, bescheidenen Anfange Deiner Studien, wie oft habe
ich in zweifelndem Gemiithe mit Ernst und Fleiss er-
wogen, ob mir Pflicht und Liebe es geboten, Dich dem
Wirkungskreis zu entreissen, in dem Dich Deine ganze
55
Umgebung zuruekzuhalten strebte; und was konnte ich
Dir bieten zum Ersatz fur die Aufopferangen aller Art,
zu denen Du Dich entschliessen musstest? ein f ernes dunk-
les Zi-el, das nur nach langen miihseligen Anstrengungen
und Kampfen zu erringen ist, wahrend Du fur die Gegen-
wart allem entsagen solltest, was in der Jugend Bliithe
und Kraft als des Lebens hochster Reiz gepriesen wird.
Venn nun der hochberiihmte Mann der Zeit Deinem
Unternelimen freundlieh Beifall zunickte, wenn die
Menge Deine Arbeiten bewundernd angafft, und der Ruf
Deinen Naraen dem Vaterlande von der Fremde ehren-
voll zuriicktragt, so denke an jene einsamen Spazier-
gange auf St. Severins und St. Gereons Wall, wo Ehr-
furcht gebietend in den Resten alter Herrlichkeit, die
Vaterstadt so still und schweigend vor uns lag, in deren
oden Mauern ein in langjahriger Erschlaffung entartetes
und nun durch den Druck der Zeiten vollends nieder-
gebeugtes Geschleeht, uns audi nicht ein Wesen darbot,
das an dem Zwecke unseres Strebens mit Liebe Theil ge-
nommen hatte. Darum freue Dich des Gelingens Deiner
Plane und gehe dem Ziele, das Du Dir vorgesteckt, mit
freiem Muth entgegen.
Wer des reinen guten Willens vor Gott und den Men-
schen sich bewusst ist, den darf das widerstrebende Dran-
gen und Treiben der Zeit so leioht nieht irre niachen; wer
dem Dienste des Hochsten sein Denken und Thun geweiht
bat, dem wird die Weisheit niclit f ehlen, die allein wahren
Wert und Bestand hat, und aueh die Klugheit nicht, die
den Geist der Welt zahmen und bezwingen kann.
Ich falle, wie Du siehst, auf einen ernsthaften Text,
Zeit und Umstande haben mir ihn aber auch jetz-t so nahe
gelegt, wo Du im Begriffe stehst, die Resultate Deines
56
Streben der Welt offentHch darzulegen, und wo mir die
momentane Stille einsamer Zuriickgezogenheit ram Nach-
denken iiber Alles was imser gemeinsames Interesse be-
riihrt, so niancherlei Veranlassung gibt.
57
Im Musee des arts decoratifs im Louvre gibt es ein kleines
Nebengelass, wo Spielzeug ausgestellt ist. Das Hauptinteresse des
Beschauers ziehen einige Puppenstuben aus dem Biedermeier auf
sich. Von den schhnmernden BouleschrSnkchen bis zu den kunst-
voll gezimmerten Sekretaren sind sie an jedem Tell das Gegen-
stiick damaliger Patrizierwohnungen, und auf den Tischen diesef
Raume liegt statt des «Globe» oder der «Revue des deux mondess-
das «Magasin des poupees» oder «Le petit courier* in 64°
beram. Dass es "Wandschniuck gibt, versteht sich von selbst. Aber
nicht leicht ist einer darauf vorbereitet, in einem jener Stiibchen
fiberm Canapee auf eine winzige, jedoch exakt gestochene Nach-
bildung des Kolosseums zu stossen. Das Kolosseum in der Puppen-
stube — das ist ein Anblick, der einem innigen Bediirfnis des
Biedermeier muss entsprochen haben. Und es passt gut dazu, wie
in dem folgenden Brief — gewiss einem der biedermeierlichsten,
die man nur finden kann — die Olympier Shakespeare, Tiedge und
Schiller unter sich unter das Blumenjoch einer Geburtstagsguirlande
schmiegen. So grausam das Spiel, mit dem die «Briefe iiber die
asthetische Erziehung» die Menschen zu freien Biirgern heranzu-
bilden bestrebt waren, auf dem historischen Schauplatz gestort wur-
de, so sicher fand es sein Asyl in jenen Biirgerstuben, die einer
Puppenstube so ahnlich sehen konnten. Ch. A. H. Clodius, der
diesen erstaunlichen Brief schrieb, war Professor fiir «praktische
Philosophic* in Halle. Das Lottchen ist 6eine Frau.
CH. A. H. CLODIUS
AN ELISA VON DER RECKE
d. 2. Dezbr. 1811.
Wie sehr grosse Seelen oft durch einen einzigen Ge-
danken des Wohlwollens auf entfemte Kreise ihrer
Freunde und Verehrer wirken, davon, himmlische Eliea,
58
habesn wir den schonsten, wahrhaft entziickenden Beweis
gestem gehabt. Die Aufstellung Ihrer wohl angekomme-
nen kolossalen Biisten, mit denen Sie Lotten giitig be-
schenkten, unter einer kleinen Musik an Lottens Geburts-
tage war ein wahrer Gottesdienst fur uns, und noch heute
sitzen wir unter den mit Epheu umhangenen, mit selten-
sten Bhimen umringten Biisten, wie die alten Griecben
und Romer unter ihren Hausgottern in den kleinen Haus-
capellen gesessen haben mogen! — Alles vereinigte sich,
sowohl Dekorazion als Cantate sehr zauberisch zu machen.
Unsre kleine Hiitte war um so mehr ein Elysium, je an-
spruchsloser alles sich darstellte.
Durch einen gliicklichen Zufall hatte ich schon
vorher, ebe Ihre Biisten ankamen, die schone Biiste
Schillers fiir Lotte bestellt, welche sie so sebr gewiinscht
hatte. Durch eben diesen gliicklichen Zufall hatte die
Freigebigkeit unserer Freunde Lottehens kleines roman-
tisches Zimmerchen nach der AUee heraus durch
Orangebaume, bliihende Aloe, Narzissen, Rosen, alaba-
sterne Vasen zu eineni Tempel Florens und der Kunst so
decoriert, dass es wiirdig war, die fremden Gaste aus dem
Olymp zu empfangen. Unter der (schon vorbandenen)
Console Shakespeares war auf einer Art Blumentrager
in der Mitte zwischen Ihrer und Schillers Biiste unsres
Tiedge Bild auf gestellt, welches als das leiehteste in dietser
Bustenform am besten von der hohen Herme getragen
werden konnte. Sonst hatten freilich die mannlichen Ge-
nien den weiblichen Genius in die Mitte nehmen oder die
minder colossale Biiste von Schiller in der Mitte zwischen
den beiden colossalen stehen miissen. Von Tiedges Herme
gingen Ranken von Epheu zu zwei runden Pfeilertisch-
chenu, auf welchen Elisa und Schiller hervorragten. In
59
diesem Kleeblatt von weissen Gestalten truug ein kleiner
Tisch die herriichsten B lumen empor, denen man die
Jahreszeit nicht anmexkte, und zu dessen Fiissen waren
die verkleideten Lichter angebracht, welche von unten
einen concentrierten Zauberschein auf die weissen colos-
salen Kopfe warfen, welche aus den griinen Biischen her-
vorragten. Ein Stehspiegel in der Ecke des Zimmers, eine
Spiegeltiir aus einem antikgearbeiteten Secretair von
Lottchen gaben die drei weissen Gestalten von neuem zu-
riick, sodass die Bilder beinahe dreifach erschienen. Wie
wir das Zimmerchen offneten und dies kleine Heiligtlhum
erscbien, lief die ganz ttnvorbereitete auf das ihr so innig
theure Bild der Mutter und des Freundes zu, mit lautem
Ausruf der Freude. Es ward ihr ein Stuhl vor den kleinen
decorierten zauberischen Schauplatz hingesetzt, und als-
dann begann von vier herrlichen Stimmen das Geister-
chor aus dem angranzenden Zimmer hinter Lottchens
Stuhl : Willkommen in dem neuen Leben !
Lottens Empfindung wird sie Ihnen, herrliche Elisa,
eelbst beschreiben und ilhren Dank, so viel sie kann, aus-
driicken. Mit ihr vereinigt sich der meinige, und herz-
liche Griisse an unsern verehrangswiirdigen Tiedge. Moge
der Himmel, edle Elisa, durch ruhige krankheitslose Stun-
den die vielen Freuden Lohnen, die Sie auch in der Feme
unserer Lotte, uns zaubern ! Venn wir die wirklieh herr-
liche Musik Ihnen schicken diirfen, die so viel reizendes,
romantisches, inniges und doch zugleieh erhabenes hat,
werde ich sie abschreiben lassen. Mit inniger unausge-
setzter Dankbarkeit fund kindlicher Liebe bin ich
Ihr
Sie treu verehrender Sohn
C. A, H. Clodius,
60
Das ist der Brief einer Zweiundzwanzigjahrigen und, erst an zwei-
ter Stelle sei es gesagt, ein Brief der Annette von Droste-Hiillshoff.
Die Batschaft aus dem Dasein einer jungen Frau, die frei von
allem Ueberschwange des Gefiihls mit Entschiedenheit, fast mit
Strenge ausspricht, was mangels gleichen Sprachvermogens stets
unbestimmt und weich erscheinen muss, ist kostbarer als die Nach-
richt aus dem Leben der Diehterin. Dieser Brief ist einzig auch
unter den Schatzen der grossen Korrespondentin, die Annette von
Droste war. Wovon er redet, das sind Dinge, die jedem naheriieken,
der einmal in spaten Jahren ohne Vorbereitung auf einen Schmuck,
auf einen Erker, auf ein Bueh, auf irgend etwas Unverandertes, das
ihm als Kind vertraut war, gestossen ist. Und von neuem wird er
die Sehnsucht nach dem Vergessenen spiiren, das da Tag und Nacht
in ihm bereit liegt, Sehnsucht, die weniger ein Zuriickrufen jener
Kinderstunden als ein Echo von ihnen ist. Denn sie war ja der
Stoff, aus dem sie gemacht waren. — Dieser Brief ist aber auch
der Vorlaufer einer Poesie «voll korniger Dinglichkeit und voll
wohligen oder muffeligen Geruchs aus alten Schubladen». "Weni-
ges bezeichnet sie in ihrer Eigenart so wie ein kleiner VorfalL der
sich in spaten Jahren beim Grafen Thurn auf Schloss Berg zutrug.
Da wollte man der Diehterin eine Freude mit dem Geschenk eines
elfenbeinernen Kastchens machen, das man sorgfaltig von allerlei
Kram leerte, um es dem Gast sodann, nachdem man seinen Deckel
wieder zugeschlagen, zu uberreiehen. Die Beschenkte, ungeduldig,
es von neuem often zu sehen, ungeschickt, es zu offnen, presste es
swischen ihren HSnden; da sprang — kaum dass sie es beriihrt
hatte — ein geheimes Fach, von dem niemand all die Jahrzehnte,
da das Kastchen in der Familie gewesen war, je gewusst hatte, mit
einem Mai auf und zum Vorschein kamen zwei zauberische alte
Miniaturbilder. Denn Annette von Droste war eine Sammlernatur,
eine seltsame freilich, in deren Stube neben Steinen und Broschen
noch Wolken und Vogelschreie ihren Platz fanden, und in der
darum das Magische und das Spinose dieser Leidenschaft mit un-
erhorter Heftigkeit sich durch drill gen. «Sie ist», hat Gundolf mit
61
tiefem Blick fiir das Verhexte und Gesegnete dieser westfalischen
Jungfer gesagt, «eine innere Zeitgenossin der Roswitha von Gan-
deraheim und der Grafin Ida Hahn-Hahn.s> — Der Brief ist ver-
mutlich nach Breslau gegangen, wo Anton Matthias Sprickmann
— ehemals Poet im Kreise des Hainbunds, dann Professor in
Minister und Mentor des jungen Madchens — seit 1814 lebte.
ANNETTE VON DROSTE-HCLSHOFF
AN ANTON MATTHIAS SPRICKMANN
Hulshoff, 8. 2. 1819.
O mein Sprickmann, ich weiss nicht, wo ich anfangen
soil, urn Ihnen nicht lacherlich zu erscheinen; derin
lacherlich ist das, was ich Ihnen sagen will, wirklich. Da-
riiber kann ich mich selber nicht tauschen, ich muss niich
einer dummen und seltsamen Sohwache vor Ihnen ankla-
gen, die mir wirklich manche Stunde verbittert; aber
lachen Sie nicht, ich bitte Sie;|nein, nein, Sprickmann,
eg ist wirklich kein Spass. Sie wissen, dass ich eigentlich
keine Torin bin; ich habe mein wunderliches, verriicktes
Ungliick nicht aus Biichern und Romanen geholt, wie ein
jeder glauben wiirde. Aber niemand M^eiss es, Sie wissen
es ganz allein, und ©s ist durch keine ausseren Umstande
in mich hineingebracht, es hat immer in mir gelegen. Wie
ich noch ganz klein war (ich war gewiss erst vier oder
fiinf Jahr'; denn ich hatte einen Traum, worin ich sieben
Jahr' zu sein meinte und xnir wie eine grosse Person vor-
kam), da kames mir vor, als ging ich mit meinen Eltern,
Geschwistern und zwei Bekannten spazieren, in einem
Garten, der gar nicht schon war, sondern nur ein Gemiise-
garten mit einer geraden Allee mitten durch, in der wir
immer hinaufgingen. Nachher wurde es wie ein Wald,
62
aber die Allee mittendurch blieb, und wir gingen immer
voran. Das war der ganze Traum, und doch war icli den
ganzen folgenden Tag hindurch traurig und weinte, dass
ich nicht in der Allee war und auch nie hineinkommen
konnte. Ebenso erinnere ich mich, dass, wie meine Mutter
uns eines Tages viel von ihrem Geburtsorte und den Ber-
gen und den uns damals noch unbekannten Grosseltern
erzahlte, ich eine solche Sehnsucht danach fiihlte, dags,
wie sie einige Tage nachher zufallig bei Tische ihre Eltern
nannte, ioh in ein heftiges Schluchzen ausbrach, so dass
ich musste fortgebracht werden; dies war auch vor mei-
nem siebenten Jahr; denn als ich sieben Jahre alt war,
lernte ich meine Grosseltern kennen. Ich schreibe Ihnen
diese unbedeutenden Dinge nur, nm Sie zu uberzeugen,
dass dieser ungliickeelige Hang zu alien Orten, wo ich
nicht bin, und alien Dingen, die ich nicht habe, durchaus
in mir selbst liegt und durch keine ausseren Dinge hinein-
gebracht ist; auf die Weise werde ich Ihnen nicht ganz so
lacherlich scheinen, mein lieber, nachsichtsvoller Freund.
Ich denke, eine Narrheit, die una der liebe Gott aufgelegt
hat, ist doch immer nicht so schlimm wie eine, die wir uns
aelbst zugezogen haben. Seit einigen Jahren hat dieser Zu-
stand aber so zugenommen, dass ich es wirklich fiir eine
grosse Plage rechnen kann. Ein einziges Wort ist hinrei-
chend, mich den ganzen Tag zu verstimmen, und leider
hat meine Phantasie soviel Steckenpferde, dass eigentlich
kein Tag hingeht, ohne dass eines von ihnen auf eine
schmerzlich siisse Weise aufgeregt wiirde. Ach mein lie-
ber, lieber Vater, das Herz wird mir so leicht, wie ich an
Sie schreibe und denke, haben Sie Geduld und lassen Sie
mich mein torichtes Herz ganz vor Ihnen aufdecken, eher
wird mir nicht wohl. Entfernte Lander, grosse interessante
63
Menschen, von denen ich habe reden hdren, entfernte
Kunstwerke und dergleichen mehr, haben alle diese trau-
rige Gewalt iiber mich. Ich bin keinen Augenbliek mit
meinen Gedanken zu Hause, wo es mir doch so sehr wohl
geht; und selbst wenn tagelang das Gesprach auf keinen
von diesen Gegenstanden fallt, seh' ich sie in jedem
Augenblick, wo ich nicht gezwungen bin, meine Aufmerk-
samkeit angestrengt auf etwas anderes zu richten, vor mir
voriiberziehen, und oft mit so lebhaften an Wirklichkeit
grenzenden Farben und Gestalten, dass mir fiir meinen
armen Verstand bange wird. Ein Zeitungsartikel, ein noch
so schlecht geschriebenes Buch, was von diesen Dingen
handelt, ist imstande, mir die Tranen in die Augen zu
treiben; und weiss gar jemand aus der Erfahrung zu er-
zahlen, hat er diese Lander bereist, diese Kunstwerke ge-
sehen, diese Menschen gekannt, an denen mein Verlangen
hangt, und weiss er gar auf eine angenehme und begei-
sterte Art davon zu reden, o ! mein Freund, dann ist meine
Rube und mein Gleichgewicht immer auf langere Zeit zer-
stort, ich kann dann mehrere Wochen an gar nichts mehr
anderes denken, und wenn ich allein bin, besonders des
Nachts, wo ich immer einige Stunden wach bin, so kann
ich weinen wie ein Kind und dabei gliihen und rasen, wie
es kaum fiir einen imgliicklich Liebenden passen wiirde.
Meine Lieblingsgegenden sind Spanien, Italien, China,
Amerika, Afrika, dahingegen die Schweiz und Otaheite,
diese Paradiese, auf mich wenig Eindruck machen. !¥a-
rum? das weiss ich nicht; ich habe doch davon viel gelesen
und viel erzahlen horen, aber sie wohnen nun mal nicht
so lebendig in mir. Wenn ich Ihnen nun sage, dass ich
mich oft sogar nach Schauspielen sehne, die ich habe auf-
fiihren sehen, und oft nach eben denjenigen, wobei ich
64
mich am meisten gelangweilt habe, nach Biichern, die ich
fruherhin gelesen und die mir oft gar nicht gefallen ha-
ben . . . habe ich z. B. in meinem vierzehnten Jahre einen
sehleehten Roman gelesen, den Titel weiss ich nicht
mehr, aber es kani von einem Turme darin vor, woriiber
ein Strom stiirzt, und vorn am Titelblatt war besagter
abenteuerlicher Turin in Kupfer gestochen; das Buch
hatte ich langst vergessen, aber seit langerer Zeit arbeitet
es sich aus meinem Gedachtnis hervor, und nicht die Ge-
schichte, nooh etwa die Zeit, in der ich es las, sondern
wirklich und ernsthaft das schabige verzeichnete Kupfer,
worauf nichts zu sehen ist wie der Turm, wird mir zu
einem wunderlichen Zauberbild, und ich sehne mich oft
recht lebhaft danach, es einmal wiederzusehen : wenn
das nicht Tollheit ist, so gibt's doch keine, da ich zudem
das Reisen doch gar nicht vertrage, da ich mich, wenn ich
einmal eine Woche von Hause bin, ebenso ungestiim da-
hin zuriicksehne, und da auch wirklich dort alles meinen
Wiin8chen zuvorkommt. Sagen Sie! was soil ich von mir
selbst denken? und was soil ich anfangen, um meinen Un-
einn los zu werden? Mein Sprickmann, ich fiirchtete meine
eigene Weichheit, wie ich anfing, Ihnen meine Schwache
zu zeigen, und statt dessen bin ich iiber dem Schreiben
ganz mutig geworden; mich diinkt, heute wollte ich mei-
nen Feind wohl bestehen, wenn er auch einen Anfall
wagen sollte. Sie konnen auch nicht denken, wie gliieklich
iibrigens meine aussere Lage jetzt ist; ich besitze die
Liebe meiner Eltern, Geschwister und Verwandten in
einem Grade, den ich nicht verdiene, ich werde, besonders
seit ich vor dreieinhalb Jahren so krank war, mit einer
Zartlichkeit und Nachsioht behandelt, dass ich wohl
eigensinnig und verwohnt werden konnte, wenn ich mich
65
nicht selbst davor fiirchtete und sorgfaltig hiitete. Wir
haben jetzt eine Schwester meiner Mutter Ludowine bei
uns, edn gutes, stilles, verstandiges Madchen, deren Um-
gang mir sehr wert ist, besonders wegen ihrer klaren und
richtigen Ansicbt der Dinge, womit sie oft, ohne es zu ahn.-
den, meinen armen verwirrten Kopf wieder zu Verstande
bringt. Werner Haxthausen lebt in K61n, und mein alte-
eter Bruder, Werner, kommt in einigen Wochen zu ihm.
Leben Sie wohl und verges-sen Sie nicht, wie begierig ich
auf Antwort warte.
Ihre Nette.
66
Es gibt wenige deutsche Prosaiker, deren Kunst so ungebrochen
in die Briefstellerei eingeht wie die von Gorres. Wie die Meister-
schaft eines Handwerkers, der seine Werkstatt neben der Wohn-
stube hatte, memals im Werk allein, sondern gleichzeitig im pri-
vaten Lebensraume des Mannes und seiner Familie sich auspragte,
so ist es bei Gorres mit der Schreibkunst der Fall. Wenn die
friihromantische Ironie Friedrich Schlegels — siehe die «Lucinde»
— esoterischer Art und bestimmt ist, eine kiihle Aura um das
reine, sich selbst genugsame «Werk» zu legen, sehlagt die spat-
romantische eines Gbrres die Briicke zum Biedermeier. Die Ironie
beginnt, sich von der Artistik zu losen, um sich der Innigkeit und
Schlichtheit zu verbinden. Dem Geschlecht, welchem Gorres an-
gehorte, ging die Reminiszenz der gotischen Biirgerstube mit ihren
Knospentiirmchen und Bogengangen an Stuhl und Truhe wirklich
tief in den Alltag ein, und wenn sie uns in den Gemalden der
Nazarener bisweilen gekunstelt und kalt erscheint, so gewinnt sie
desto mehr Warme und Kraft in den intimeren Bereichen. Der
folgende Brief spiegelt sehr schon den Uebergang der idealisch aus-
gespannten Romantik ins beschauliche Biedermeier.
JOSEPH GoRRES AN DEN STADT-
PFARRER ALOYS VOCK IN AARAU
Strassburg, 26. Juni 1822.
Ich muss wieder einmal mein Antlitz gegen das Aartal
wenden und eehen, was tneine freien Biindler iiber dem
Jura machen. Ich setze daher sofort gleich den linken
Fuss an den alten Salzturm bei Basel, dann gar nicht weit
ausnehmend den rechten, unsern guten Fricktalern damit
iiber die Nase fahrend, oben auf den Sattel an der Scharte
und sehe nun hinunter und finde gleich die holzeme
67
Briicke, auf der man am hellen Tage nicht sieht, an die
man unter drei Franken Strafe, die Halfte fiir den Arbeit-
geber, sein Wasser nicht abschlagen darf, natiirlich urn
das schone griine Bergwasser unten nicht zu verderben,
sehe ich links die alte Zwingburg, der en Mauern die tap fe-
ren Arauer zwolften Geschlechts abwarts iiberschritten,
dahinter die Wohnung, wo ehemals Prof. Gorres eeinen
patriotischen Phantasien nachgebangen, endlich ganz
links am Ende, um nicht mehr irre zu gehen, im vorletz-
ten Hause, meinen liebwertesten Herrn Pfarrer etwas zer-
streut auf der Gallerie hinten auf und nieder gehen, bis-
weilen nach der Scharte sehen und seinen Augen nicht
recht trauen, ob der Heruntersehende wirklich der Herr
Schreibende ist, und ob er aus dem Brief e heraussieht,
oder der Brief aus ihm, und ob seine Gedanken auf dem
Berge stehen oder der Berg in seinen Gedanken. Das sind
nun eben die kuriosen Falle, wie sie im Leben vorkom-
men, und wenn der Pfarrer mich wirklich anredet und
mich ernsthaft fragt, ob ich denn wirklich der selbige
Herr Gorres sei, der bekanntermassen zehn Monat in des
Biirgermeisters Haus gewohnt und im Garten auf und ab
trottiert, so kann ich mit gutem Gewissen nicht ja sagen,
da der leibliche Ueberrock, den ich vor acht Monaten von
da mitgenonimen, wirklich ganz abgetragen und zerrissen
ist; und doch audi ohne rot zu werden, nicht recht nein,
da ich mich wirklich zu erinnern glaube, dass das frag-
liche Subjekt wirklich da herumspaziert. Da gebe ich
ihm denn kurzweg in der Verwirrung die Hand und fiihle
nun gleich, wie's steht, und dass ich bei alten Freunden
und Bekannten bin.
Um nun auf die albernen Reden audi ernsthafte Dis-
kurse zu fiihren, so will ich Ihnen sagen, wie dieser mein
68
Brief hinter grossen Wettern herzieht, die viel Menschen
bier das Leben gekostet und ganz nahe audi meine Frau
und Sophie auf dem Wasser getroffen hatten. Das sind
furchtbare Stiirme in diesem Jahre, die sieh iiber die Ge-
birge nach Norden hin verirrt. Marie meint, Sie wiirden
nun seit vier Wochen audi kein Feuer mehr im Ofen
haben, obgleich inimer noch Morgen und Abend etwas
kiihlich spitze Finger machen mochten ; ich sage ihr aber,
man brauche sie ja eben nic^t herauszustrecken und eie
vielmehr, wie sich's denn auch ohnehin schickt, bei sich
behalten.
Viel hundert Vogel, die eben auf der grossen Kasta-
nie vor meinem Fenster ihr Schlaflied singen, lassen Ihre
Zeiserlein auch aufs schonste griissen.
69
In der Friihromantik war es ein dichtes Netz nicht gedanklicher
Beziehungen allein, sondern personlicher, das von den Naturwissen-
schaftem sich zu den Dichtern hiniiberspann. Verbindende Geister
wie Windischmann, Ritter, Ennemoser und verbindende Vorstellun-
gen wie die Brown'sche Reiztheorie, der Mesmerismus, die Chlad-
ni'schen Klangfiguren hielten das naturphilosophische Interesse
auf beiden Seiten ununterbrochen wach. Je weiter aber das Jahr-
hundert vorriickte, desto mehr lockerten sich diese Beziehungen,
um endlich in der Spatromantik den seltsamsten, gespanntesten
Ausdruck in der Freundschaft zwischen Liebig und Platen zu fin-
den. Das Kennzeichnende, von alteren Bindungen ahnlicher Art
ganzlich sich Unterscheidende, ist die Ausschiiesslichkeit, mit der
sie — von alien iibrigen Verbindungen abgesondert ■ — auf die bei-
den Partner allein gestellt ist: den neunzehnjahrigen Studenten der
Chemie und den sieben Jahre Aelteren, der an der gleichen Uni-
versitat Erlangen seinen orientalischen Interessen nachging. Die
gemeinsame Studienzeit freilich war kurz; im Friihjahr des Jahres
1822 schon, das sie zueinander gefiihrt hatte, musste Liebig sich
vor den Demagogenverfolgungen nach Paris in Sicherheit bringen.
Das war der Beginn eines Briefwechsels, der ausgespannt iiber den
drei Pfeilern der gemeinsam verlebten Monate, schwankerid, vibrie-
rend den Abgrund der Jahre, welche folgten, iiberbruckte. Un-
endlich schwierig ist Platen als Korrespondent gewesen: die Sonette,
Ghaselen an Freunde, wie sie auch diesen Briefwechsel von Zeit
zu Zeit unterbrechen, scheint er gewissermassen zu verstecken oder
zu erkaufen durch unablassige Vorwiirfe, Ausfalle, Drohungen. Um
so gewinnender das Entgegenkommen des geliebten und schonen
Jungeren, der in Platens Welt so weit eingeht, ihm als Naturforscher
(konnte er sich zu solcher Tatigkeit entschliessen) eine grossere
Zukunft als Goethen zu prophezeien oder auch, Platen zur Freude,
seine Briefe mit arabisehen Schriftzeichen zu signieren, wie diesen
folgenden. Abgefasst ist er zwei Monate vor der entscheidenden
Wendung in Liebigs Leben, auf die er selber in seiner Widmung
der «Chemie in ihrer Anwendung auf Agrikultur und Physiologies
70
zuriickweist. «Zu Ende der Sitzung vom 28. Juli 1823», so wendet
er sich an Alexander von Humboldt, «rait dem Zusammenpacken
meiner Apparate beschaftigt, naherte sich mir aus der Reihe der
Mitglieder der Akademie ein Mann und kniipfte mit mir eine
Unterhaltung an; mit der gewinnendsten Freundlichkeit wusste er
den Gegenstand meiner Studien und alle meine Beschaftigungen
und Plane von mir zu erfahren; wir trennten uns, ohne dass ich
aus Unwissenheit und Scheu zu fragen wagte, wessen Giite an mir
teilgenommen habe. Diese Unterhaltung ist der Grundstein meiner
Zukunft gewesen, ich hatte den fur meine ■wissenschaftlichen Zwecke
inach tigs ten und liebevollsten Freund und Gonner gewonnen.» Den
Zeiten, in denen zwei grosse Deutsche in den Raumen einer franzo-
sischen Akademie Bekanntschaft miteinander schliessen konnten,
ist Liebig auch weiterhin, zumal im Jahre 1870, treu geblieben, da
er in einer Rede vor der Bayrischen Akademie der Wissenschaften
dem Chauvinismus entgegengetreten ist. So reprasentierte er in der
Friihzeit wie im Alter jene Forschergeneration, der Philosophie
und Dichtung noch nicht ganz aus dem Blickkreis verschwunden
waren, wenn sie auch nur mehr winkend und hinter Nebeln, wie im
folgenden Briefe, herubergeistern.
JUSTUS LIEBIG
AN GRAF AUGUST VON PLATEN
Paris, den 16. Mai 1823.
Liebster Freund!
Meinen letzten Brief hast Du jetzt sicher in Handen
und erwartest mit diesem Brief mein Bild, das ich Dir zu
senden versprach. es ist nicht meine Schuld, dass dieses
nicht gleich geschieht, isondern die Schuld des Kiinstlers,
der es his jetzt noch nicht beendigt hat; allein soil mich
dieses abhalten, mit Dir ein wenig zu plaudern?
Es ist eine ausgemachte Sache, dass Witterung, die
Temperatjur und andern aussern Zufalligkeiten einen ent-
71
echiedenen Einfluss auf das Denken, und deswegen auch
auf das Brief schreiben haben; der Mensch unterliegt dic-
sem Einflusse trotz seines gebietenden Ichs, er hat dieses
mit dem hygrometrischen Herd gemein, das sich verlan-
gern oder verkiirzern muss, wenn Feuchtigkeit in seiner
Umgebung sich befindet oder nicht. Sicher ist bei mir
jetzt em solches ausseres Agens im Spiel, das mir das
Schreiben an Dich zum Bediirfnis macht, da ich mich ja
im andern Falle mit idem Denken oder mit dem Gedanken
an Dich hatte begniigen konnen, doch glaube deswegen
noch nicht, dass vielleicht ein naher Komet Schuld daran
eei, derm die Magnetnadel oscilliert noch wie zuvor, auch
ist die Hitze nicht ausserordentlicher als wie sie gewohn-
lich urn diese Zeit in dem Pariser Klima ist; Biots Vor-
lesung iiber die Zerlegung und Klassifizierung der Tone
kann dieses auch nicht hervorgebracht haben, und doch
wiinschte ich, dass ich die Harmonika spielen konnte, ich
wiirde jetzt spielen, und Du wiirdest vielleicht die Tone
horen, die Dir sagen konnten, wie sehr herzlich ich Dich
liebe. Gay Lussac, der Entdecker der Gesetze, welchen
die Gase unterworfen sind, hat in eeinen Vorlesungen
noch weniger Anlass dazu gegeben, und doch wiinschte
ich ein Gas zu sein, das sich ins Unendliche ausdehnen
konnte, ich wiirde mich im Augenblicke mit dem End-
lichen begniigen, und wiirde mich nur bis Erlangen ex-
pandiren und Dich dorten als Atmosphare umgeben, und
gibt es die Gase, die beim atmen todlich, andere, die lieb-
liche Bilder erischeinen machen, so wiirde ich vielleicht
ein Gas sein, das die Lust zum Briefschreiben und Freude
und Lust am Leben erwecken konnte. Beutang kann mit
seiner Mineralogie noch weniger dieses Bediirfnis hervor-
bringen, da er mir alle Hoffnung abschneidet, jemals den
72
Stein der Weisen, ( der sich als Stein doch in der Minera-
logie finden miisste) zu erhalten, und doch wiinschte ich
ihn, weil er mich in den Stand eetzen wiirde, Dich so gliick-
lich als moglich zu machen, und mich fahig machen
wiirde, mit Dir arabische und persische Ratsel zu losen,
was ich ohne diesen Wunderstein nie erlernen werde. 1st
es vielleicht la Place mit seiner Astronomic ? Dieser kann
es auch nicht sein, er zeigt mir bloss den Meridian, in
welchem Du lebst, ohne mir Deine gliicklichen Sterne zu
zeigen. Ebensowenig konnen es Cuviers Entdecktmgen in
der Natur sein, die mich zum Briefschreiben bewegten,
denn der gute Mann hat trotz seinem Eifer noch nicht
ein Tier, viel weniger einen Menschen finden konnen, der
dem andern vollkommen gleich ist, er zeigt mir bloss,
dass die Natur aus einer Leiter besteht, und lasst mich
nur sehen, um wieviel Stufen ich noch unter Dir stehe.
Oerstedt vielleicht, bei seinem Hiersein hat mit seinem
Elektromagnetismus dieses Ratsel bewirkt? All ein auch
dieser ist es nicht, denn er nimmt in seinem Galvanismus
keine Pole an, und ich fiihle wohl, dass wir zwei Pole
sind, die in ihrem Wesen unendlich verschieden, allein
auch eben dieser Verschiedenheit halber sich anziehen
miissen, denn Gleichartiges stosst sich ab.
Du siehst liebster Platen, dass ich nichtg finde, was
mir dieses Geheimnis aufklaren konnte, ich bitte Dich in
D-einem nachsten Brief um den Schliissel.
Dein Dich herzlich kiissender
Liebig.
73
«Diese Blumen», so schreibt am 10. Dezember 1824 Jenny Von
Droste-Hiilshoff, die Schwester der Annette, an Wilhelm Grimm,
«sind aus meinem Garten, und ich habe sie fur Sie getrocknet.»
Und: «Ich wiinsche Ihnen immer klaren Sonnenschein, wenn Sie
in der Aue spazieren gehen wollen, und dass Ihnen dann keine
lastigen Bekannten hegegnen, die Sie auf unangenehme Gedanken
bringen und so die ganze Erholung fiir Sie verloren geht.» Sie hat
auch noch zwei Bitten, «mochte namlich gerne wissen, wie gross
das Schauspielhaus und Theater in Kassel ist». Die andere Bitte
ist aber viel wichtiger. «Wenn ich», so schreibt sie, «meinen Schwa-
nen die Fliigel stutze, was neulich noch an den beiden Jungen hat
gesehehen miissen, so ist das immer eine so grosse und traurige
Arbeit. Ich bitte Sie also, mal zu fragen, auf welche Art die Schwane
in der Aue wohl behandelt werden. Es hat aber damit gar keine
Eil, denn so bald kann ich do eh von Ihrem Unterricht noch keinen
Gebrauch , machen. Die Schwane miissen Sie aber immer mit giin-
stigen Augen ansehen und denken, Sie stiinden am Hiilshoffer
Teiche und sahen die meinigen da schwimmen. Ich will Ihnen auch
sagen, wie sie heissen: der schone Hans, Weissfiisschen, Langhals
und Schneewitchen. Gef alien Ihnen die Namen wohl?» Alles das
ist im folgenden Briefe beantwortet. Es ist jedoch nicht die Erledi-
gung der Fragen in solcher Antwort, sondern die zarteste Verflech-
tung mit ihnen, so dass dies Frag- und Antwortspiel zur Spiegehmg
des langst vergangenen Liebesspiels zwischen den Schreibenden
wird, das schwerlos in der Sprach- und Bilderwelt weiterlebt. Was
ware Sentimentalitat, wenn nicht der erlahmende Fliigel des Fiih-
lens, das sich irgendwo niederlasst, well es nicht weiterkann, und
was also ihr Gegensatz, wenn nicht diese unermiidete Regung, die
sich so weise aufspart, auf kein Erlebnis und Erinnern sich nieder-
lasst, sondern schwebend eins nach dem andern streift: «0 Stern
und Blume, Geist und Kleid / Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit>
74
WILHELM GRIMM
AN JENNY VON DROSTE-HULSHOFF
Cassel, 9ten Januar 1825.
Liebes Fraulein Jenny!
Ich danke Ihnen fiir die beiden Briefe, die ich von
Ihnen erhalten habe, und fiir die freundschaftliche und
wohlwollende Gesinnung, die daraus spricht: ich habe
sie von Herzen gefiihlt und erkannt. Ich konnte daa viel-
leicht noch besser und schoner ausdriieken, aber warum
sollten Sie die Wahrheit davon nicht in den wenigen Wor-
sen empfinden. Es ist nun schon lange, seit ich Sie zuerst
gesehen habe, und viele Jahre sind jedesmal verflossen,
ehe wir uns Ihrer Gegenwart wieder erfreuten, und doch
ist mir jedesmal gleich vertraulich in Ihrer Nahe vorge-
komnien, darum stelle ich mir auch nicht vor, dass Sie
uns vergessen wiirden oder Ihr Andenken an uns in der
Zeit verblassen konne. Es ist schon, wenn es Menschen
gibt, an die man mit Vertrauen und Sicherheit zu alien
Zeiten denken darf. Ich glaube, ich habe Ihnen schon
einmal geschrieben, dass mir unser Leben oft wie ein
Gang in einem unbekannten Lande vorkommt, denn un-
gewiss ist ja alles, was uns begegnet. Der Himmel ist iiber-
all in gleicher Nahe iiber uns und um uns, und ich ver-
traue wie Sie, dass er mir wird begegnen lassen, was mir
gut ist; gleichwohl sind unsere Fiisse an den Boden ge-
fesselt, und wir empfinden es schmerzlich, wenn wir in
diirrem und heissem Sand dahin sohreiten, und wir diirfen
uns wohl nach den griinen Wiesen, Waldern, nach den
Orten sehnen, die liebreiche Menschen angebaut haben.
Dies wird Sie wieder an meine Erzahlung von meinen
75
Spaziergangen erinnern, auf welchen ich so ungern einem
Gesicht begegne, dessen Ausdrack mich stort; denn ich
kann es doch nicht lassen, die Menschen anzusehen. Diese
vielleicht allzugrosse Empfindlichkeit mag auch daher
kommen, dass ich seit vielen Jahren, eigentlieh so lange
ich mich besinnen kann, allein spazieren gegangen bin-
In friiheren Jahren musste ich es tun, weil ich wegen
Kranklichkeit langsam ging, und iso ist es mir als Gewohn-
heit geblieben; ich bin auf diese Art am liebsten mit mir
selber allein, und es ersetzt mir die Einsamkeit, nach der
ich mich manchmal, so gerne ich unter Menschen bin, und
so wenig ich lange allein sein mochte, ausserordentlich
eehne. Ich begreife Ihre Abneigung, die Sie manchmal
gegen Gesellschaft hegen; es ist gewiss immer recht und
gut, wenn man sie bezwingt, aber ich werf e mir doch auch
die Artigkeit gegen Menschen vor, die mir gleichgultig
sind.
Ihre Blumen, die Sie uns geschickt haben, sind so
echon, wie ich sie noch niemals in dieser Art gesehen
habe. Sie dachten nur einen Sommer zu bliihen und Bind
nun fiir so lange Zeit bewahrt, dass sie wohl einen Men-
schen ausdauern und langer. Wie schnell das Leben ver-
geht, mitten in der Beschaftigung und Arbeit fliegt mir
die Zeit dahin. Vor einigen Tagen, am 4. Januar haben
wir Jacobs Geburtstag gefeiert; glauben Sie wohl, dass er
schon 40 Jahre alt ist? Manchmal ist er noch ganz wie
ein Kind und ist auch ein so guter und edeldenkender
Mensch, den ioh vor Ihnen einmal loben mochte, wenn
sichs schickte.
Sie hatten versprochen, die Cas-siopea, die ich Ihnen
hier zeigte, zu behalten; ich will Sie noch mit einem
Sternbild bekannt machen, welches man in dieser Zeit
76
sieht und daa schonste unter alien ist. Wenn Sie an einem
Abend, etwa um 8, 9 Uhr zwischen Osten und Stiden ge-
rade aufblicken wollen, ao wird es vor Ihnen stehen; es
sieht so aus, wenigstens in meinen Gedanken :
*
*
*
-*
Dae Ganze heisst Orion, die zwei grossen Sterne Rigel
und Bellatrix, denn mit dem arabischen des dritten will
ich Sie nicht qualen. Die sechs in der Mitte stehenden
Sterne
*
hei&sen auch der Jacobsstab oder der Rechen, was Sie
nun gar der Gartnerei wegen nicht vergessen diirf en. Nach
Pfingsten versinkt es wieder im Westen und steigt im
Herbst im Osten wieder auf.
Das Theater hat 40 Fuss Breite, 43 Fuss Hohe und 155
Fuss Tiefe. Hierin erhalten Sie die genaue Nachricht.
Aber wie es mit den Schwanen gehalten wird, habe ich
noch nicht erfahren konnen. Eigentlich glaube ich, man
schneidet den Jungen die Fliigel gar nicht, wenn sie auch
auffliegen, kommen sie doch zur Heimat wieder zuriick.
Diesen Sommer ging ich einen Abend die Fulda hin-
auf ; da hatte sich ein Schwan auf eine kleine Insel nie-
dergelassen, sass da ganz stolz, dann liess er sich in die
Flut hinab und zog ein paar Kreise; der ist gewiss aus
77
der Aue hierher geflogen, auch habe ich sie da einige
Mai fliegen gesehen. Sonst brauchen Sie mir keine Zu-
neigung zu diesen Tieren anzuempfehlen; ich habe eie
immer gerne gehabt; das stille, ernste und ruhige und
doch heitere, das geistige, — denn man denkt, Meer-
schaum habe sich gebildet und belebt, — das begeisterte,
das sie neben dem kiihlen und rahigen zu haben scheinen,
gefallt mir immer von neuem. Am schonsten habe ich
sie im Anfang des Dezember gesehen: ich ging, wie ich
es gerne tue, bei einbrechender Nacht an einem von den
lauen und milden Abenden hinab in die Aue zu dem Was-
eer, weil ich das besonders gerne betrachtete. Mich er-
freut immer das reine, leicht bewegliche Element. Die
Trauerweiden hatten noch alle ihr Laub, nur war eg hell-
gelb geworden, und die diinnen Zweige trieben sich mit
sichtbarem Vergniigen in der Luft langsam hin und her.
Im Osten leuchteten durch die Fichten und Tannen ein
paar dunkelrote Streifen, wahrend die andern schon in
tiefer Dammerung steckten. Nun schienen die Schwane
erst recht lebendig zu werden, zogen auf dem Spiegel hin
und her, ihr Weiss leuchtete durch die Dunkelheit, und
sie sahen wirklich wie iibernaturliche Wesen aus, sodass
ich mir die Nixen und Schwanenjungfrauen lebhaft vor-
stellen konnte, bis es endlich finstere Nacht wurde. Die
Namen von Ihren Schwanen gefallen mir, nur Weiss-
fusschen ist mir ein Ratsel, oder soil er dadurch Be-
scheidenheit lernen? Nennen Sie nun auch einen Wasser-
nix
Damit will ich diesen Brief an einem Sonntagmorgen
schliessen, nur noch die herzlichsten Griisse von une alien
miissen Sie annehmen, ehe sie ihn hinlegen.
Wilhelm Grimm.
78
Den folgenden Brief hat der 75jahrige Zelter an den 78jahrigeii
Goethe gerichtet, ehe er nach seiner Ankunft in Weimar dessen
Schwelle betrat. Es ist oft bemerkt worden, dass in unserer Lite-
ratur Glanz und Ruhm am meisten den Jiinglingen, den Beginnen-
den und noch mehr den Friihvollendeten anhaften. Wie selten die
Erscheinung des Mannlichen in ihr ist, bekraftigt jede neue Be-
schaftigung mit Lessing. Vollends aus dem bekannten Raum der
deutschen Bildungswelt ragt die Freundschaft heraus, in wel-
cher zwei Greise in einem geradezu chinesischen Bewusstsein von
der Wiirde des Alters und seiner Wiinschbarkeit die Neige ihrer
Lebenstage einander mit den erstaunlichen Trinkspriichen zubrin-
gen, die wir in Goethes Briefwechsel mit Zelter besitzen und von
denen der folgende der vollkommenste sein diirfte.
KARL FRIEDRICH ZELTER
AN GOETHE
Du bist im Mutterleibe der Natur so hubsch zu Hause
und ich hore Dich so gerne reden von Urkrafiten, die von
Geschlechtern der Menschen ungesebn dwrch das Uni-
versum wirken, dass ich ein Gleiahes ahnde, ja Dich im
Tiefsten zu verstehen meine und doch zu alt und viel
zu weit zuriick bin, urn ein Stadium der Natur anzufangen.
Komme ich nun auf einsanien Reisen iiber Hohen,
Rergspitzen, durch Schluchten und Thaler, so werden
mir Deine Worte zu Gedanken, die ich mein nennen
mochte. Aber es fehlt an alien Orten und nur mein eigenes
kleines Talent kann mich retten, dass ich nicht versinke.
Da wir doch nun einmal zusammen sind wie wir sind,
so dachte ich, Du liessest Dich herab, da ich Dich so gem
verstehe, mir meinen Grundstein zu legen um mein inner-
79
etes Sehen zu f esten : wie Kunst und Natur, Geist und Kor-
per liberal! zusammenhangen, ihre Trennung aber —
Tod ist.
So babe ich auch diesmal wieder, indem ich wie ein
Zwirnfaden das Thiiringische Gebirge von Coburg bis
bieber durcbzogen bin, schmerzhaft an den Werther ge-
dacht: dass ich nicht iiberall mit Fingern der Gedanken
was unter und neben mir ist, befuhlen, beschauen kann;
was mir aber so natiirlich vorkommt als Korper und Seele
Ein Wesen sind.
Freilieh bat es unserer vieljahrigen Correspondent
nicht an Materie gefehlt; Dti hast so redlich Theil genom-
men am meinem Stiickwissen in musikalischen Dingen, wo
wir Andern freilich nocb immer umherschwanken ; —
wer hatte es uns denn sagen sollen?
Aber ich mochte doch auch nicht gar zu bettelhaft
gegen Andere vor Dir erscheinen. Nenne es Stolz — die-
ser Stolz ware meine Lust. Von Jugend an habe mich
hingezogen, hingezwungen gefiihlt zu denen die mehr,
die das Beste wissen und mutig, ja lustig mich bekampft
und ertragen, was mir an ihnen missfiel — ich wusste
wohl was ich wollte, wenn ich auch nicht weiss, was ich
erfuhr. Du warst der Einzige, der mich trug und tragt, ich
konnte von mir selber lassen, nur nicht von Dir.
Sage mir, zu welcher Stunde ich zu Dir komme; ich
erwarte vorher unsern Doctor, weiss aber nicht, wann er
kommen kann.
Weimar, Dienstag den 16. Octbr. 1827.
Z.
80
Dem historischen Riickblick enthalt der folgende Brief mehr als
eine Todesnachricht, und sei es die ganz Deutschland erschiittern-
de vom Hinscheide Kegels. Er ist ein Treugelobnis an seiner Bahre,
dessen Folgen die, die es ablegten, damals nicht ahnten. Strauss
und Maerklin, die sich in diesem Briefe so eng verbunden zeigen,
gehorten dem gleichen Jahrgang der Klosterschule Blaubeuren an,
auf der sie miteinander Freundschaft geschlossen hatten, und zwar
der sogenannten «Geniepromotion». So wenigstens nannte man
diesen Jahrgang spater auf dem Tubinger Stift, in welches, 1825,
Strauss und Maerklin als Studenten der Theologie hiniibertraten.
Unter den iibrigen Figuren, die der Gruppe zu dem glanzvollen
Namen verhalfen, hat heute freilich nur noch Friedrich Theodor
Vischer ein Gesicht. In der schonen gemachlichen Biographie,
die Strauss dem Adressaten nach dessen friihem Tod — er starb
mit 42 Jahren 1848 — gewidmet hat, stellt er anmutig das Bild des
heruhmten Stifts bin, das im Laufe der Zeit «soviele bauliche Ver*
wandlung erfahren, dass es kein klosterliches, ja kaum mehr ein
altertumliehes Ansehen hat. Mit der Hauptseite gegen Siiden ge-
wendet, sonnig und luftig, die hoheren Stockwerke mit entziicken-
der Aussicht auf die dunkelblaue Mauer der schwabischen Alp,
welche uber dem theatraliseh auseinandertretenden Vordergrunde
des Steinlaohtales sich als Hintergrund erhebt, ist das ganze Ge-
baude, die beiden Horsale und den Speisesaal ausgenommen, in
Arbeits- und Schlafzimruer fur je 6 bis 10 Bewohner in der Art ab-
geteilt, dass, ahnlich wie in Blaubeuren, allemal zwischen zwei Stu-
dierzimmern der Zoglinge ein Repetentencabinett sich befindet,»
Wenn Strauss spater das Stift verliess, urn die unmittelbare Aus-
einandersetzung mit den Gedanken zu suchen, die von Berlin aus
damals Deutschland bewegten, so waren die beiden Freunde doch
1833 von neuem als Repetenten im Stift vereinigt und zwei Jahre
spater erschien dann das «Leben Jesu», das nicht nur fur seinen
Verfasser Strauss, sondern auch fur Maerklin Ursprung lang an-
dauernder Kampfe wurde, in denen die Theologie der Junghege-
lianer sich bildete. Ausgangspunkt der Hegelstudien fiir beide war
81
die <rPhanomenologie». «Hegel, welcher einst mit Maerklins Vater
zu gleicher Zeit in das Tiibinger Stift eingetreten war, hatte lange
in seiner schwabischen Heimat nur geringe Beachtung gefunden.
Nun erwuchs ihra auf einmal in dem Sohne Maerklins und dessen
Freundeskreis ein Hauflein von begeisterten Anhangern; nur zogen
sie in theologischen Dingen die Konsequenzen jenes Systems viel
kiihner als der Meister selbst.» Im «Leben Jesu» fiihren diese Kon-
sequenzen zu einer Synthese der supranaturalistischen und der ra-
tionalen Auslegung des Neuen Testaments, dergestalt, dass, um mit
Strauss zu reden- «als Subjekt der Pradikate, welche die Kirche
Christo beilegt, statt eines Individuums eine Idee, aber eine reale,
nicbt kantisch unwirklicbe gesetzt wird. In einem Individuum,
einem Gottmenschen, gedacht, widersprechen sich die Eigensehaften
und Funktionen, welche die Kirehe Christo zuschribt: in der Idee
der Gattung stimmen sie zusammen.» Das waren Perspektiven der
Hegelschen Lehre, die, so keimhaft sie im Jahre 1831 noch ver-
schlossen lagen, die konventionelle Erbaulichkeit einer Totenfeier
nicht gerade beforderten. Und es war nieht allein der werdende
Verfasser des Lebens Jesu, der bei dieser Bestattung den Missklang
empfand, in dem eine umstiirzende und unvorhergesehene Art des
Fortlebens sich ankiindigte. «Das Entsetzen», schreibt sehr ver-
mittelnd J. E. Erdmann, gleichfalls ein Hegelianer, «dariiber, dass
er, den man noch eben frisch und munter gesehen hatte, dahin-
gerafft war, muss als ein Entschuldigungsgrund fiir manches an
seinem Grabe gesprochene Wort gelten. Er war zu gross gewesen,
als dass die Kleinen, denen er Halt gab, nicht ausser Fassung und
Haltung hatten kommen sollen.»
DAVID FRIEDRICH STRAUSS AN
CHRISTIAN MAERKLIN
Berlin, den 15. November 1831.
An wen, geliebtester Freund! soil ich es schreiben,
dass Hegel tot ist, als an Dich, dessen ich auch am mei-
sten gedachte, so lange ich den Lebenden horen und sehen
konnte ? Zwar die Zeitungen meld en es Dir wohl, ehe Dich
82
mein Brief erreicht; aber auch von mir sollst imd musst
Du es horen. Ich hoffte, Dir Erfreulichexes von Berlin aus
schreiben zu konnen! Denke Dir, wie ich. es erfuhr. Ich
hatte Schleiermacher nicht treffen konnen, bis diesen
Morgen. Da fragte er natiiriich, ob mich die Cholera nicht
abgesehreckt habe zu kommen, worauf ich erwiderte, dase
ja die Nachrichten immer beruhigender geworden, und sie
jetzt wirklich fast zu Ende seL J a, sagte er, aber sie hat
noch ein grosses Opfer gefordert — Professor Hegel ist
gestern Abend an der Cholera gestorben. Denke Dir diesen
Eindruck! Der grosse Schleiermacher er war mir in die-
eem Augenblick unbedeutend, weun ich ihn an diesem
Verluste maB. Unsere Unterhaltung war zu Ende, und
ich entfernte mich eilig. Mein erster Gedanke war: nun
reisest du ab, was tust du ohne Hegel in Berlin? Bald
aber besann ich mich und bleibe nun. Hergereist bin ich
einmal, — auf eine weitere Reise komme ich nicht mehr,
und hier ist Hegel zwar gestorben, aber nicht ausgestor-
feen. Ich freue mich, dass ich den grossen Meister noch
gehort und gesehen habe vor seinem Ende. Ich horte beide
Vorlesungen bei ihm: iiber Geschichte der Philosophic
und Rechtsphilosophie. Sein Vortrag gab, wenn man von
alien Aeusserlichkeiten absieht, den Eindruck des reinen
P iirsichseins, das sich des Seins fiir Andere nicht bewusst
war, d. h. es war weit mehr ein lautes Sinnen, als eine
an Zuhorer gerichtete Rede. Daher nur die halblaute
Stimme, die unvollendeten Satze, wie sie so augenblick-
lich in Gedanken aufsteigen mogen. Zugleich aber war es
edn Nachdenken, wie man wohl an einem nicht ganz un-
gestorten Orte dazu kommen mag, es bewegte sich in den
bequemsten, konkretesten Form en und Beispielen, die
nur durch die Verbindung und den Zusammenhang, in
83
welchem sie standen, hohere Bedeutung erhalten. Am
Freitag hatte er beide Vorlesungen noch gehalten; Sams-
tag und Sonntag fielen sie oh.neh.in weg; am Montag war
angeschlagen, dass Hegel wegen plotzlicher Krankheit
seine Vorlesungen aussetzen miisse, aber am Donneratag
ihre Fortsetzung anzeigen zu konnen hoffe, aber noeh
an eben dem Montag war ihm das Ziel gesetzt. Vorigen
Donnerstag besucbte ich ihn. Wie ich ihm Namen und
Geburtsort nannte, sagte er gleich: ah, ein Wiirttember-
ger! und bezeugte eine berzliche Freude. Er fragte mich
xiach allerlei Wurttembergischen Verhaltnissen, in wel-
chen er noch mit ehrlicher Anhanglichkeit lebte, z. B.
nach KLlostern, nach dem Verhaltnis von Alt- und Neu-
Wiirttembergern und dergl. IJber Tubingen sagte er, er
hore, dass daselbst iible und zum Teil gehassige Vorstel-
lungen iiber seine Philosophic herrschen; es treffe auch
bier zu, sagte er lachelnd, dass ein Prophet nichts gilt in
seinem Vaterlande. Von dem wissenschaftlichen Geiste
in Tiibingen hatte er die eigene Vorstellung, es werde da
zusammengetragen, was dieser und was jener von einer
Sache halte, da habe der das dariiber gesagt, ein anderer
jenes, auch lasse sieh das noch sagen u. s. f . Es iet dies
wohl fiir unsere Zeit nicht mehr ganz richtig iiber Tii-
bingen — der gesunde Menschenverstand und das ortho-
doxe System sind positivere Mittelpunkte seiner Theologie
und Philosophie. Nach Deinem Vater erkundigte sich
Hegel mit vieler Teilnahme, die Erwahnung Maulbronns
brachte ihn darauf, er sagte, dass er mit ihm durch's
Gymnasium und die Universitat gegangen. Er wusste ihn
noch in Neuenstadt; als ich sagte, dass er nun Pralat in
Heilbronn sei, sagte der alte Wiirttemberger : so, jetzt
i&t auch in Heilbronn ein Pralat? — Wenn man Hegeln
84
auf dem Katheder sah und horte, so gab er sich so un-
endlich alt, gebiickt, hustend usw., dass ich ihn 10 Jahre
jiinger fand, als ich auf's Zimmer zu ihm kam. Graue
Haare allerdings, bedeckt von jener Miitze, wie sie das
Bild bei Binder zeigte, bleiches, aber nicht verfallenes
Gesicht, helle, blaue Augen und besonders zeigten sich
beim Lacheln noch die schonsten weissen Zahne, was
einen sehr angenehmen Eindruck machte. Er gab sich
ganz als einen guten alten Herrn, wie ich bei ihm war, und
sagte am Ende, ich solle ofters bei ihm einsprechen, er
wolle mich dann auch mit seiner Frau bekannt machen.
— Nun Morgen Mittag um 3 Uhr wird er begraben. Die
Bestiirzung ist ungemein auf der Universitat ; Henning,
Marheineke, selbst Ritter lesen gar nicht, Michelet kam
fast weinend auf den Katheder. Mein Stundenplan ist nun
ganz zerrissen; ich weiss nicht, ob nicht vielleicht jemand
die Hefte der zwei angefangenen Kollegien abzulesen un-
ternehmen wird. Sonst hore ich bei Schleiermacher die
Enzyklopadie, bei Marheineke den Einfluss der neuen
Philosophic auf die Theologie, und jetzt, da Hegels Vor-
lesung wegfallt, kann ich auch noch die Geschichte der
kirchlichen Dogma bei ihm horen, welche er zu gleicher
Stunde mit Hegel las. Bei Henning hore ich Logik, bei
Michelet Enzyklopadie der philosophischen Wissenschaf-
ten. Schleiermacher ist, weil er extemporiert, nicht leicht
nachzuschreiben — er hat mich iiberhaupt bis jetzt —
auch das Predigen miteingeschlossen, noch nicht beson-
ders angezogen, - — ich muss ihn zuvor mehr personlich
kennen lernen. Marheineke's Vortrag stellt man falsch
dar, wenn man ihn stolz und affektiert nennt, er ist sehr
wiirdig und mit unverkennbaren Spuren von Gefuhl. Der
freundlichste Mann hier ist aber Hitzig, der mir schon
85
unzahlige Gefalligkeken erwiesen hat, Gestern fiihrte er
mich in eine Gesellschaft ein, in welcher namentlich Cha-
misso zu treffen war. Man liest Rente's Leben vor. Cha-
misso, ein altlicher, langer, hagerer Mann, mit einem
grauen altdeutschen Haar, aber kohlschwarzen Augen-
brauen. Im Gesprach ist er nicht viel, zerstreut, das Ge-
sicht greulich verziehend, aber freundlieh und zuvorkom-
ro end. So hatte ich also alles, — nur Dich, mein Beater,
nicht und keinen der mir Dich irgend ersetzen konnte.
Warum bist Du so eigensinnig fortgerannt, ohne auf una
zu warten? wirst Du sagen. Urn Hegel noch zu sehen und
ihm mit der Leiche zu gehen, antworte ich. Sende diesen
Brief Biihrern, damit er meinen Eltern sagt — worauf
sie begierig sein werden — was ich jetzt nach Hegel'e Tode
zu tun gedenke.
Den 17. Gestern haben wir ihn begraben. Um 3 Uhr
hielt Marheineke als Rektor im Universitats-Saale eine
Rede, einfach und innig, mich ganz befriedigend. Er
stellte ihn nicht nur als Konig im Reiche des GedankenB,
sondern auch als echten Jiinger Christi im Leben dar. Er
sagte auch, was er bei einer kirchlichen Feier nicht wiirde
gesagt haben, dass er wie Jesus Christus durch den leib-
lichen Tod zur Auferstehung im Geiste, den er den Sei-
nigen gelassen, hindurchgedrungen sei. Hierauf ging der
ziemlich tumultarische Zug vor's Trauerhaus und von da
zum Gottesacker. Dieser war mit Schnee bedeckt, rechts
stand die Abendrothe, links der aufgehende Mond. Neben
Rchte, wie er gewiinscht hatte, wurde Hegel beigesetzt.
Ein Hofrath Fr. Forster, ein Poet und Anhanger Hegel's,
hielt eine Rede voll leerer Phrasen, wie das Gewitter, das
lange iiber unseren Hauptern gestanden, und sich schon
verzieh«n zu wollen schien, noch mit einem ziindenden
86
Strahl und hartem Doniierschlag ein holies Haupt getrof-
fen; und dies mit einem Ton, wie wenn man dem Kerl
einen Sechser gegeben hatte, um das Ding geschwind ab-
zulesen. Nachdem dies beendigt war, trat man naher zum
Grab und eine von Thranen gedampfte, aber hochfeier-
liche Stimme sprach: Der Herr segne Dich, Eg war Mar-
heineke. Dieser Eindruck befriedigte mich wieder ganz.
Reim Austritt aus dem Gottesacker eah ich einen jungen
Mann weinen und horte ihn von Hegel sprechen. Ich
sehloss mich ihm an; es war ein Jurist, vieljahriger Schil-
ler Hegel's. Damit Gott befohlen.
87
Voranzuschicken ist diesem Goethebrief weniges; ein kurzer
Kommentar soil ihm folgen. In der Tat scheint die philologische
Auslegung einem so grossen Dokument gegeniiber die bescheidenste
Verhahungsweise, zumal dem, was Gervinus fiber den allgemeinen
Charakter der Goethesehen Spatbriefe in seiner Sehrift «Ober den
Goethesehen Briefwechsel» sagt, in Kiirze nichts hinzuzufiigen ist.
Auf der anderen Seite liegen furs aussere Verstandnis dieser Zeilen
alle Daten bei der Hand. Ann 10. Dezember 1831 war Thomas See-
beck, der Entdecker der entoptischen Farben, gestorben. Entop-
tische Farben sind dureh eine gewisse massige Lichtanregung in
durcfasichtigen Korpern zum Vorschein kommende Farbenbilder.
In ihnen erblickte Goethe einen experimentellen Hauptbeweis sei-
ner Farbenlehre der Newtonschen gegeniiber; er nahm also starksten
Anteil an ihrer Entdeckung und stand von 1802 bis 1810 zu ihrem
in Jena ansassigen Urheber in naherer Beziehung. Ala Seebeck
spaterhin in Berlin wirkte und dort Mitglied der Akademie der
Wissenschaften wurde, lockerte sich das Verhaltnis zu Goethe. Die-
ser verdachte es ihm, dass er an so sichtbarer Stelle nicht nach-
haltig fur die «Farbenlehre» sich einsetzte. Soweit die Voraus-
setzungen des folgenden Sehreibens. Es stellt die Antwort auf einen
Brief dar, in dem Moritz Seebeck, der Sohn des Forschers, gleieh-
zeitig mit der Nachricht vom Ableben seines Vaters Goethe der
Bewunderung versichert, die der Verstorbene bis zuletzt fur ihn
hegte und die «einen festeren Grund als den einer personlichen
Neigung hatte.»
GOETHE AN MORITZ SEEBECK
3. Januar 1832.
Auf Ihr sehr wertes Schreiben, mein Theuerster, liabe
wahrhaftest au erwidern: dass das friihzeitige Scheiden
Ihres trefflichen Vaters fur mich ein grosser personlicher
88
Verlust sei. Ich denke mir gar zu germ die wackeren
Manner, welche gleiehzeitig bestrebt sind, Kenntnisse zu
vermehren und Einsichten zu erweitern, in voller Thatig-
keit. Wenn zwischen entfernten Freunden sich erst ein
Schweigen einschleicht, sodann ein Verstummen erfolgt
und daraus ohne Grand und Noth sich eine MiBstimmung
erzeugt, so mussen wir darin leider eine Art von Unbe-
hiilflichkeit entdecken, die in wohlwollenden guten Cha-
rakteren sich hervorthun kann, und die wir, wie andere
Fehler, zu iiberwinden und zu beseitigen mit Bewusstsein
betrachten sollten. Ich habe in meinem bewegten und ge-
drangten Leben mich einer solchen Versaumniss ofters
schuldig gemacht und will auch in dem gegenwartigen
Fall den Vorwurf nicht ganz von mir ablehnen. So viel
aber kann ich versichern, daas ich es fur den zu friih
Dahingegangenen weder als Freund an Neigung, noch als
Forscher an Theilnahme und Bewunderung je habe fehlen
lassen, ja dass ich oft etwas Wichtiges zur Anfrage zu
bringen gedachte, wodurch dann auf einmal alle bosen
Geister des Misstrauens waren verscheucht gewesen. Doch
hat das voriiberrauschende Leben unter anderen Wunder-
Iiehkeiten auch diese, dass wir in Thatigkeit so bestreb-
sam, auf Genuss so begierig, selten die angebotenen Ein-
zelheiten des Augenblicks zu schatzen und festzuhalten
wissen. Und so bleibt denn im hochsten Alter uns die
Pflicht noch iibrig, das Menschliche, dae uns nie verlasst,
wenigstens in seinen Eigenheiten anzuerkennen und uns
durch Reflexion iiber die Mangel zu beruhigen, deren Zu-
rechnung nicht ganz abzuwenden ist. Mich Ihnen und
Ihren theuren Angehorigen zu geneigtem Wohlwollen
bestene empfehlend ergebenst
/. W. v. Goethe.
89
Dieser Brief ist einer der letzten, die Goethe geschrieben hat.
Wie er, so steht auch seine Sprache an einer Grenze. Die Goethe-
sche Altersrede erweitert das Deutsche in einem imperialen Sinne,
der keinen Einschlag von Imperialismus hat. Ernst Levy hat in
einer wenig bekannten, aber um so bedeutsameren Studie «Zur
Sprache des alten Goethe» gezeigt, wie die beschauliche, kontempla-
tive Natur des Dichters im hohen Alter ihn zu eigentiimlichen
granimatischen und syntaktischen Fiigungen bringt. Er hat auf das
Vorherrschen von Komposita, den Schwund des Artikels, die Be-
tonung des Abstrakten und viele andere Ziige hingewiesen, die zu-
sammenwirkend zur Folge haben, «jedem Wort einen moglichst
grossen Bedeutungsinhalt» zu geben und das gesamte Gefiige unter-
ordnenden Sprachtypen wie dem Tiirkischen, einverleibenden wie
dem Gronlandischen angleichen, Ohne unmittelbar diese sprachli-
chen Gedanken aufzunehmen, suehen die folgenden Anmerkungen
zu erhellen, wieweit diese Sprache von der gebrauehlichen abliegt.
«ein grosser personlicher Verlust sei»
— Sprachlich ware der Indikativ mindestens ebenso moglich;
der Konjunktiv an dieser Stelle verrat, dass das den Schreibenden
beherrschende Gefiihl von sich aus nicht den Weg zur Schrift, zum
Ausdruck mehr verlangt, dass Goethe als Kanzlist des eigenen In-
nern es verlautbart.
«in voller Tatigkeit»
— Die Worte stehen als Kontrast zu: tot; ein wahrhaft antik
empfundener Euphemismus.
«eine Art von Unbehilflichkeit»
— Der Schreiber wahlt fiir das Verhalten des Greisen einen
Ausdruck, welcher eher fiir das des Sauglings am Platze ware, und
dies, um ein Physisches an die Stelle eines Geistigen setzen zu
konnen, und dergestalt den Tatbestand, sei es auch mit Gewalt, zu
vereinfachen.
«nicht ganz von rair ablehnen»
— Goethe hatte wohl schreiben konnen «nicht ganz ablehnen».
Er schreibt «nicht ganz von mir ablehnen» und bietet damit sich,
90
den eignen Leib, dem Vorwurf zur Stiitze, gemass der Neigung, die
Abstraktion, die er im Ausdruck sinnlicher Dinge bevorzugt, ihrer-
seits im Ausdruck der geistigen in eine paradoxe Anschaulichkeit
umschlagen zu lassen.
«das voriiberrauschende Leben»
— - Bewegt und gedrangt heisst dies Leben an anderer Stelle: Bei-
worte, die es iiberdeutlich machen, dass der Scbreiber selbst sich,
betrachtend, an dessen Ufer zuriickzog, im Geiste, wenn auch nicht
im Bilde, jenes anderen Greisenwortes, mit dem Walt Whitman
versehieden ist: «Nun will ich mich vor die Tiir setzen und das
Leben betrachten.»
«Einzelheiten des Augenblickss'*
— <Zum Augenblicke mocht ich sagen: Verweile doch, du bist
so 8chon.s> Schon ist der erfiillende Augenblick, der verweilende
aber erhaben, wie der am Lebensende kaum mehr vorriickende,
den diese Briefzeilen festhalten.
«das Menschliche ... in seinen Eigenheiten*
— Die sind das Letzte, worauf der grosse Humanist sich als in
ein Asyl zuriickzieht; die Idiosykrasien, die diese spateste Lebens-
periode regieren, auch sie stellt er unter das Patronat der Mensch-
heit selbst. Wie durch das Mauerwerk eines unerschiitterlichen,
ausgestorbenen Baues zuletzt die schwachen Pflanzen, Moose sich
ihre Bahn brechen, dringt hier, die Fugen einer unerschiitterlichen
Haltung sprengend, das Gefiihl.
91
Es ist immer die gleiche Wendung — Holderlin an Bohlendorf :
«Deutsch will und muss ich iibrigens bleiben, und wenn mich die
Herzens- und Nahnragsnot nach Otaheiti triebe»; Kleist an Fried-
rich Wilhelm III.: dass er «schon mehr als einmal dem traurigen
Gedanken nahe gebracht worden», sich im Ausland ein Fortkom-
men suchen zu miissen; Ludwig Wolfram an Varnhagen von Ense:
<Sie werden einen deutschen Schriftsteller von gewiss unbeflecktem
literarischem Ruf nicbt dem Elend zur Beute lassen» ; Gregorovius
an Heyse: «Diese deutschen Manner wiirden einen wahrlich ver-
hungern lassen». Und nun Biichner an Gutzkow: «Sie sollen noch
erleben, zu was ein Deutscher nicht fahig ist, wenn er Hunger hat».
Es ist ein grelles Licht, das aus solchen Briefen auf die lange Pro-
zession deutscher Dichter und Denker fallt, die an die Kette einer
gemeinsamen Not geschmiedet, am Fusse jenes weimarerischen Par-
nasses sich dahinschleppt, auf dem die Professoren gerade wieder
einmal botanisieren gehen. ■ — Fiir alles Ungliick, von dem er Zeug
nis ablegt, ist diesem folgenden Briefe das Gliick zu iiberdauern,
zugefallen. Besonders sind die an die Seinen und an die Braut
Eingriffen zum Opfer gefallen, welche der Bruder, Ludwig Biich-
ner, an seinem Teil damit rechtfertigt, es sei ihm nur auf das an-
gekommen, «was zur Kenntnis der politischen Bewegung jener
Zeit und des Anteils, den Biichner daran hatte, wichtig erschiens>.
Diesem Anteil setzt der folgende Brief ein Ziel. Denn in der Friihe
des 1. Marz 1835 floh Biichner aus Darmstadt. Schon seit einiger
Zeit waren die Mitglieder der Gesellschaft der Menscbenrechte der
Behorde bekannt gewesen; die Arbeit am «Danton» ging, wie man
gesagt hat, unter Polizeiaufsicht vor sich. Unter Polizeiaufsicht
stand auch die Redaktion; als das Stiick im Juli des Jahres er-
schien, nannte Gutzkow selbst es einen notdurftigen Rest, «die
Ruine einer Verwiistung, die mich Ueberwindung genug gekostet
hat». Erst 1879 brachte Emil Franzos die unzensierte Ansgabe
heraus. Die Wiederentdeckung Biichners am Vorabend des Welt-
krieges gehort zu den wenigen literarpolitischen Vorgangen der
92
Epoche, die mit dem Jahre 1918 nicht entwertet waren, und deren
Akmalitat einer Mitwelt, die die Reihe der eingangs erwahnlen
Aeusserungen unabsehbar wacbsen gieht, blendend einleuchten muss.
GEORG BtJCHNER AN KARL GUTZKOW
Darmstadt, Ende Februar 1835.
Mein Herri
Vielleicht hat es Ihnen die Beobachtung, vielleicht, im
ungliicklicheren Fall, die eigene Erfahrung schon gesagt,
dass es einen Grad von Elend gibt, welcher jede Riicksicbt
vergessen und jedes Gefiihl verstummen macbt. Es gibt
zwar Leute, welche behaupten, man solle sich in einem
solchen Falle lieber zur Welt hinaushungern, aber ich
konnte die Widerlegung in einem seit Kurzem erblin-
deten Hauptmanne von der Gasse aufgreifen, welcher er-
klart, er wiirde sich totschiessen, wenn er nicht gezwungen
sei, seiner Familie durch sein Leben seine Besoldung zu
erhalten. Das iet entsetzlich. Sie werden wohl einsehen,
dass es ahnliche Verhaltnisse geben kann, die Einen ver-
hindern, seinen Leib zum Notanker zu machen, um ihn
von dem Wracke dieser Welt in das Wasser zu werfen,
und werden sich also nicht wundern, wie ich Ihre Tiire
aufreisse, in Ihr Zimmer trete, Ihnen ein Manuskript auf
die Brust setze und ein Almosen abfordere. Ich bitte Sie
namlich, das Manuskript so schnell wie moglich zu durch-
lesen, es im Fall Ihnen Ihr Gewissen als Kritiker dies er-
lauben sollte, dem Herm Sauerlander zu empfehleix und
sogleich zu antworten.
Ueber das Werk selbst kann ich Ihnen leider nichts
sagen, als dass ungliickliche Verhaltnisse mich zwangen,
93
es in hochstens fiinf Wochen zu schreiben. Ich sage dies,
um Ihr Urteil iiber den Verfasser, nicht iiber das Drama
an xmd fiir sich zu motivieren. Was ich daraus machen soil,
weiss ich selber nicht, nur das weiss ich, dass ich alle
Uraaehe habe, der Geschichte gegeniiber rot zu werden,
doch troste ich mich mit dem Gedanken, dass, Shake-
speare ausgenommen, alle Dichter vor ihr und der Natur
wie Schulknaben dastehen.
Ich wiederhole meine Bitte um schnelle Antwort; im
Falle einea giinstigen Erfolges konnen einige Zeilen von
Ihrer Hand, wenn sie vor nachsten Mittwoch hier eintref-
fen, einen Ungliicklichen vor einer sehr traurigen Lage
bewahren.
Sollte Sie vielleicht der Ton dieses Briefes befremden,
so bedenken Sie, dass es mir leichter fallt, in Lumpen zu
betteln, als im Frack eine Supplik zu iiberreichen, und
fast leichter, die Pistole in der Hand: la bourse ou la vie!
zu sagen, als mit bebenden Lippen ein: Gott lohn' es!
zu fliistern.
G. Biichner.
94
Das Schauspiel «Prominenter», welche unter hergebrachten
Floskeln einem Jubilaum, einer Ehrung sich seheinen entziehen zu
wollen, ist uns gelaufig. Um aber den Sinn einea Verhaltens zu
finden, das dergestalt gewohnlich nur imitiert wird, muss man wohl
in den Zeugnissen deutscher Menschen ein wenig zuriickblattem.
Da stosst man denn auf diesen Brief des grossen Chirurgen Dieffen-
bach (1795 — 1847), und jene echte Bescheidenheit, die nicht Demut
vor den Leuten, sondern der Anspruch auf Namenlosigkeit ist.
Auch von dem, was in diesem Schreiben beriihrt wird, gelten Dief-
fenbachs Worte aus der gleicbzeitigen Vorrede seiner «Operativen
Chirurgie»: «Es sind keineswegs Oberschauungen und Riickblicke
in ein niiihevolles und bewegtes Leben, keine schwermutvollen Be-
traehtungen am Abend des eigenen Daseins, sondern noch mit der
Glut der Jugend und der Gegenwart erfasste Begebenheiten, nicht
bloss von vorgestern, sondern noch von gestern und noch von heute.»
Kurz vor dem Tod versichert dieser Brief das fast vollbrachte Le-
ben jener Treue, die den Tatigen zum Feiern so ungeschickt macht.
Sie ist gewiss kein Ideal an sich. Wohl aber eignet dies Verhalten
den grossen Typen des deutschen Biirgertums, denen wir in die-
ser Briefreihe nachgehen. Wie weit wir dabei aus dem Kreise der
«Dichter und Denken> uns entfernen diirfen, ohne darum eine ge-
ringere Kraft seiner Pragung zu finden, wird man, mit einiger Ver-
legenheit vielleicht, den folgenden Zeilen entnehmen.
JOHANN FRIEDRICH DIEFFENBACH
AN EINEN UNBEKANNTEN
Potsdam, 19. Oktober 1847.
Es ist wohl moglich, class einigen meiner Freunde
nicht entgangen ist, dag's ich heut vor 25 Jahren promo-
viert habe. Nur besorge ich, sie konnten von diesem Tage
eine Art Aufhebens bei meinen Collegen und Bekannten
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machen, und etwas veranlassen, wadurch ich mit meinem
Empfinden gewissermassen in die Enge getrieben wiirde.
Von je an ist es mir ein peinlicher Gedanke gewesen, der
Lowe einer Feierlichkeit, ein begratulierter Zweckesser
zu sein. Ich liesse mir heute lieber etwas operieren, als
mich von den edelsten und besten Menschen begliick-
wiroschen. Das ist nicht blosse Demuth, sondern auch eine
Art von Sehnsucht nach stiller Einsamkeit an diesem
ganz allein fiir mich wichtigen Tage. Mir sind die 25
Jahre, welche ich fiir kranke Menschen in meinem Beruf
gelebt habe, so schnell und befriedigend verstrichen, als
waren es nur 25 Wochen, und ich fiihle mich durch das
bewegte und erschiitternde Leben, in dem ich soviele
Schmerzen sah, weder an Geist noch an Korper abgemat-
tet, und es ist mir, als hatten die vielen Kranken, unter
denen ich gelebt, mich so gestahlt und gestarkt, daas ich
auf neue 25 Jahre contrahire.
Wenn also heut am 19. Oktober einige Freunde und
Bekannte, sowie andere gute Menschen meiner gedenken, J
weil sie gehort haben, dass mir heut vor 25 Jahren von j
dem lieben herrlichen seligen d'Outrepont der Doctorhut |
auf den Kopf gesetzt sei, so will ich dies freundliche An- f
denken in aller Stille und Einsamkeit geniessen. Ich will j
ihnen nicht allein dafiir danken, sondern auch fiir alles
das Gute und Liebe, welches sie mix erzeigten und wo-
durch sie mir zur Erreichung meines Lebenszweckes for-
derlich waren.
Joh. Friedr. Dieffenhach.
96
Als Einfiihrung zu dem folgenden durch Dahlmanns besorgte
Frage nach. dem Fortgang des Deutschen W6rterbucb.es veranlassten
Brlefe miigen einige Stellen aus der Einleitung dieses Werkes liier
Platz finden: «Es gait, unseren Wortschatz zu heben, zu deuten
und zu lantern, denn Sammlung ohne Verstandnis macht leer, un-
selfostandige deutsche Etymologie vermag nichts, und wem lautere
Schreibung ein Kleines ist, der kann auch in der Sprache das
Grosse nicht lieben und erkennen. Hinter der Aufgabe bleibt aber
das Gelingen, hinter dem Entwurf die Ausfiihrung. Ich zimniere
bei Wege / Des muss ich manegen Meister han. Dieser alte Spruch
lasst empfinden, wie dem zumute sei, der ein Haus auf offener
Strasse auferrichtete, vor welchem die Leute stehn bleiben und es
begaffeti. Jener hat am Tor und dieser am Giebel etwas auszu-
setzen, der ein lobt die Zierarten, der andere den Anstrich. Ein
Worterbuch stent aber auf dem allgemeinen Heerweg der Sprache,
wo sich die unendliche Menge des Volkes versammelt, das ihrer
im ganzen, lange nicht im einzelnen kundig, sowohl Aeusserungen
des Beifalls und Lobes als auch des Tadels erschallen lasst.» «Langst
entbehrt unsere Sprache ihres Dualis, dessen ich rnich hier immer
bedienen musste, und den Pluralis fortzufiihren, fallt mir zu lastig.
Ich will das Viele, das ieh alles zu sagen habe, und von dem auch
meine eigensten inneren Empfindungen beschwichtigt oder ange-
fochten werden, frischweg in meinem Namen aussprechen!; viel-
leicht wird, sobald er kiinftig das Wort ergreift und seine weichere
Feder ansetzt, Wilhelm meinen ersten Bericht bestatigen und er-
ganzen. Hingegeben einer unablassigen Arbeit, die mich, je genauer
ich sie kennen Ierne, mit starkerem Behagen erfiillt, wanim sollte
ich bergen, dass ich meines Teiles entschieden sie von mir gewie-
sen hatte, wenn unangetastet ich an der Gottinger Stelle geblieben
ware? Im vorgeriickten Alter fiihle ich, dass die Faden meiner
iibrigen angefangenen oder mit mir umgetragenen Biicher, die ich
jetzt noch in der Hand halte, dariiber abbrechen. Wie wenn tage-
lang feine ,dichte Flocken voni Himmel nieder fallen, bald die ganze
Gegend in unermesslichem Schnee zugedeckt liegt, werde ich von
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der Masse aus alien Ecken und Ritzen auf mich andringender Wor-
ter gleichsam eingeschneit. Zuweilen mochte ich mich erheben und
alles wieder abschiitteln, aber die rechte Besinnung bleibt dann
nicht aus. Es gelte doch fur Torheit, geringeren Preisen obschon
sehnsiichtig nachzuhangen und den grossen Ertrag ausser aeht zu
lassen.» Und endlich dieser Schluss, geschrieben zu einer Zeit, da
Deutschland — ohne Kabel zwar, aber obne seine Stimme falschen
zu miiusen — iiber das Meer hin gesprochen hat: ^Deutsche
geliebte Landsleute, welches Reiches, welches Glaubens Ihr seiet,
tretet ein in die Euch alien aufgetane Halle Eurer angestammten,
uralten Sprache, lernet und heiliget sie und haltet an ihr, Eure
Volkskraft und Dauer hangt in ihr. Noch reicht sie fiber den Rhein
in das Elsass bis nach Lothringen, fiber die Eider tief in Schleswig-
holstein, am Ostseegestade nach Riga und Reval, jenseits der Kar-
pathen in Siebenbiirgens altdakisehes Gebiet. Auch zu Euch Ihr
ausgewanderten Deutschen fiber das salzige Meer gelangen wird
das Buch und Euch wehmiitige liebliche Gedanken an die Heimat-
sprache eingeben oder befestigen, mit der ihr zugleich unsere und
eure Dichter hinfiberzieht, wie die englischen und spanischen in
Amerika ewig fortleben.
Berlin, 2. Marz 1854. Jacob Grimm.»
JACOB GRIMM AN
FRIEDRICH CHRISTOPH DAHLMANN
Lieber Dahlmann,
Ihre Schriftziige, so selten sie mir zu Gesicht kommen,
habe ich auf den ersten Blick erkannt, vielleicht ginge
es Ihnen nicht so mit den meinen durch das viele Schrei-
ben etwas verschrumpfenden und ungleichen.
Ich bin in den ersten drei Monaten fast immer krank-
haft gewesen, als ein iibler Grippeanfall endlich uber-
wunden schien, folgte auf ihn der zweite, hartere, der
Bedenken einflossen konnte und mich wenigstens so her-
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unter brachte, dass ich mich schwer erhole, denn noch
ist nicht alles damit voriiber. Wenn ich oft schlaflos zu
Bette lag, fuhrt mir auch das Worterbuch durch den
Sinn.
Sie ermahnen mich liebevoll und dringend zu eifriger
Fortarbeit. Hirzels Briefe tropfen schon jahrelang anhal-
tend auf denselben Fleck, zwar mit feinster Schonung,
doch so, dass, wie wenn Frauen schreiben, dasselbe An-
liegen immer darin enthalten ist, und auch, falls ich sie
nicht lase, ich doch wiisste, was darin eteht.
Im Widerspruch mit diesen Stimmen und einer innern
in mir selbst, mahnen mich alle iibrigen, die hier in mein
Ohr tbnen, ab von angestrengter Arbeit, und haben, wie
Sie sich denken konnen, am Arzt ihren Hinterhalt. Ich
werde dadurch nicht stutzig noch unschliissig, aber doch
etwas gepeinigt.
Stellen wir uns das Bild des Worterbuches einmal leb-
haft vor. Ich habe in Zeit von drei Jahren fiir die Buch-
staben ABC geliefert 2464 enggedruckte Spalten, welche
in meinem Manuskript 4516 Quartseiten ausmachten.
Hier will alles, jeder Buchstabe eigenhandig geschrieben
sein, und fremde Hilfe ist unzulassig. Wilhelm wird in
den drei darauf gefolgten Jahren das D, obschon er es
dem Plan entgegen zu sehr ausfiihrt, in 750 Spalten dar-
stellen.
Die Buchstaben A B C D erreichen noch nicht ein
Viertel des ganzen. Es bleiben also, mild angeschlagen,
noch gegen 13,000 gedruckte Spalten oder nach Weise
meines Manuskriptes 25,000 Seiten zu schreiben. Fiirwahr
eine abschreckende Aussicht.
Ich dachte als Wilhelm in die Reihe trat, dass ich nun
etwas aufatmen und an andere Arbeiten gehn konnte, die
99
sdcli unterdessen getiirmt hatten. Sobald Hirzel sah, dass
Wilhelm langsamer schreitet und das Werk zuriickblieb,
begann er von mir zu begehren, ich solle, ohne das Ende
von D abzuwai^ten, mit E beginnen, damit der Druck
gleichzeitig geschehen konne. Buehhandlerisch betrach-
tet, war dies nicht unbillig, verdarb mir aber meine Ferien
und storte meine Ruhe, denn bei dem Gedanken, alsbald
wieder vortreten zu miissen, wies ich aucb weit aussehende
neue Arbeiten zuriick und arbeite mehr einzelnes aus.
Dass wir beide zugleich Worterbuch arbeiten, hat auch
ausserlieh manches gegen sich. Die Menge von Biichern,
die dabei gebraucht werden, miissten bald hier bald dort
weggenommen werden. Da wir nicht in einer Stube sitzen,
wiirde ein bestandiges Laufen und Helen entspringen. Ich
weiss nicht, ob Sie sich unsre Hauseinrichtung deutKch
vorstellen. Fast alle Biicher sind an den Wanden meiner
Stube aufgestellt und Wilhelm hat die grosste Neigung,
sie in seine Stube zu holen, wo er sie aef Tische legt, dass
man sie schwer wieder findet. Tragt er sie aber an die
alte Stelle, so ist ein unendliches Tiir auf- und zuschlagen,
das uns beiden lastig wird.
Dies ist nur ein ausseres Hindernis, das aus dem Zu-
sammenarbeiten hervorgeht, die inneren sind viel
schwerer.
Sie wissen es, dass wir beide von Kindesbeinen an brii-
derlich zusammenleben und einer ungestorten Gemein-
schaft pflegen. Alles was Wilhelm arbeitet, geschieht mit
fleissiger Sorgfalt und Treue, allein er geht langsam zu
Werke und tut seiner Natur keine Gewalt an. Ich habe
mir oft im Herzen vorgeworfen, dass er durch mich
eiigentlich in graxnmatiche Dinge getrieben worden ist,
die seiner inneren Neigung fernliegen, er hatte sein Ta-
100
memmmm&^m%
lent, ja alles, worin er mir iiberlegen ist, besser auf an-
dern Feldern bewahrt. Diese Worterbucharbeit verursacht
ihm zwar Freude, doch mehr Pein und Not, dabei fiihlt
er sich selbstandig und vereinbart sich ungern da, wo die
Ansichten abweichen. So kornnit es denn, dass 'die Gleich-
artigkeit des Plans und der Ausfuhrung leidet, was dent
Werke schadet, wenn es auch einigen Lesern sogar an-
genehm erscheint. In seiner Ausarbeitung ist mir darum
einiges nicht recht, sowie umgedreht an der meinen ihm
einzelnes missfallen mag.
Ein solches Werk muss, wenn es gedeihen soil, in ieiner
Hand liegen. Ich muss aber noch weiter ausholen.
Alle meine Arbeiten und Erfolge waren nie auf ein
Worterbuch hingerichtet und es tritt nachteilig da-
zwischen.
Ich empfinde weit mehr Lust, die Grammatik, der ich
doch am Ende alles verdanke was ich erreichte, uberhaupt
zu vollenden, jetzt wachst sie iiber mich und ich muss
sie unvollendet liegen lassen, vermag ihr nicht zu geben,
was in meinen Kraften stande, wenn ich mich frei fiihlte.
Unterdessen auch haben sich manche andere und neue
Gegenstande vor mir aufgetan, deren Behandlung mir
weit naher zu Herzen ginge als das Worterbuch, eie
konnte ich erreichen, wahrend das Ende des Worter-
buches unnahbar steht. Hatte ich diese ganze schwierige
Lage vorausgesehen, ich wiirde damals mit Handen und
Fiissen das Worterbuch abgewehrt haben. Meine Beson-
derheit und Eigentiimlichkeit leidet darunter Abbruch.
Doch ich weiss, wozu ich verbiinden bin, und habe
bereits vor acht Tagen nach Leipzig gemeldet, dass ich
noch diesen Monat anfangen will, ich werde also den Hals
101
wleder unter das Joch beugen und erwarten, was die Zu-
kiunft bringt und wie sie es fiir mich ausgleicht.
Nun haben Sie, lieber Freund, einen langen Brief, den
zu durchlesen Ihnen schwer geworden sein wird, aber Sie
sind Schuld daran und wollen es so, weil Sie herzlich in
mich drangen. Mich freut zu horen, dass jetzt drei Mad-
chen, in Lessings Sprache drei Frauenzimmerehen, in
Ihrem Hause sind, wodurch Sie aufgeheitert werden. Icli
bleibe Ihr treuer Freund.
Berlin, 14. April 1858.
Jacob Grimm.
102
Georg Lukacs hat die weittragende Bemerkung gemacht, das
deutsche Biirgertum hatte seinen ersten Gegner — den Feudalismus
— noch nicht zu Boden gerungen, als schon das Proletariat — sein
letzter — vor ihm gestanden habe. Die Zeitgenossen Metternichs
haben davon ein Lied singen konnen. Man braucht nur die „Ge-
schichte des neunzehnten Jahrhunderts» des nie gemig geschatzten
Gervinus zu offnen und dort zu lesen, was auch der emeritierte
Haus-, Hof- und Staatskanzler noch kurz vor seinem Tode hat lesen
konhen: «Es hat grosse Staatslenker gegebeti, die driickender als
Metternich regierten, aber durch Verdienste um den Staat ihre
Harte vergiiteten, die, selbst wenn sie wie Metternich ihre person-
lichen Interessen dem Staatswohl voranstellten, doch, wo ihr Eigen-
nutz nicht im Spiele war, das Gute aus Klugheit forderten oder in
natiirlicher Neigung und in dem gemeinsamen Trieb zur Tatigkeit.
Nicht so war Metternich. Sein Interesse war die Untatigkeit, und
es war daher immer im Spiele und mit dem Staatswohle immer im
Streit.* Es war aber nicht sie allein, die dem Gestiirzten jene Sou-
veranitat schenkte, die dieser Brief des Eimmdachtzigjahrigen so
sichtlich atmet, und auch nicht nur der ungestbrte Genuss unab-
sehbarer Rechtiimer, die sich der Furst, wie man sagte, durch die
«Kursgewinne und Teilungsvertrage mit den Geldkonigen, die
Dienste um Dienste, die Gewinne aus teuren Verkaufen und
wohlfeilen Kaufern, die Entschadigungs-, Friedens-, Evakuations-,
Ausgleichungs-, Erwerbungs- und Schiffahrtsmillionens> in einem
dreissigjahrigen Frieden zu verschaffen gewusst hatte, son-
dern die denkwiirdige politische Konfession, die sich in den acht
Banden seines handschriftlichen Nachlasses kaum irgendwo giiltiger
formuliert finden wird als in diesem vermachtnisartigen Schreiben
an den Grafen von Prokesch-Osten, seinen einzigen Schuler und
damaligen osterreichischen Bundestagsprasidialgesandten in Frank-
furt. Man kann von diesem Brief getrost den Bogen uber ein hal-
bes Jahrhundert schlagen und wird den Vorbehalt, der mehr noch
als in alien seinen Worten in Metternichts vieldeutigem Lacheln
lag — einem Lacheln, das dem Marschall Lannes kriechende
103
Schmiegsamkeit zeigte, dem Freiherrn Hormayr List und Liisternheit,
dem Lord Russel nichtssagende Gewohnheit — man wird den Vor-
behalt und dieses Lacheln bei Anatole France wiederfinden, der
sagt: «Alle Augenblicke spricht man von ,Zeichen der Zeit'. Aber
die sind sehr schwer ausfindig zu machen. Nicht selten schien mir
aus einigen kleinen Szenen, die unter meinen Augen sich abspiel-
ten, das Eigentiimlichste unserer Epoche zu sprechen. In solcben
Fallen aber geschah es neunmal von zehnen, dass icb genau das
Gleiehe mit entsprechenden Begleitumstanden in alten Memoiren
oder Chroniken wiederfand.» Das ist es; und darum wird das Leben
stets von jenen destruktiv gestimmten Geistern — mogen sie als
Grandeigneurs feudalistisch oder als Burger anarchistisch gesinnt
sein — am liebsten mit dem Spiel verglichen werden. Der Dop-
pelsinn des Wortes ist ganz am Platze. Im folgenden Sehreiben
ist es das der Biihne mit seiner ewigen Wiederkunft alles Gleichen,
in einem beinalie gleichzeitigen der Hasard, wobei «die Riick-
sichten auf Moral- und Rechtsbegri'ffe in den Skat» gehoren. «Lak-
kierten Staub» hat ein russischer Staatsrat den Fiirsten genannt.
Er hatte sein Lacheln darum nicht abgelegt: die Staatskunst war
ihm ein Menuett, wonach im Sonnenlicht Staubchen tanzen. So
gab er von einer Politik sich Rechenschaft, die auch das Biirgertum
in seiner grossen Zeit nicht meistern konnte, ohne sie als Illusion
zu durchschauen.
FtjRST CLEMENS VON METTERNICH
AN DEN GRAFEN
ANTON VON PROKESCH-OSTEN
Wien, 21. Dezember 1854.
Liebp.r General!
Ich beniitze die erste sichere Gelegenheit, urn Ihnen
fur Hire freundschaftliche Erinnemng an den 23. Novem-
ber zu danken. Der Tag hat sich zum 81. Mai eingestellt,
und er bietet mir also kaum andere Blicke als in die Ver-
104
gangenheit; die Zukunft gehort mir nicht mehr, und die
Gegenwart bietet mir wenig Befriedigung.
Ich bin ein geborener Feind der Nacht und Freund
des Lichts. Zwischen der totalen Finsternis und dem Zwie-
licht mache icli einen geringen Unterschied, denn in dem
letzteren fehlt ebenfalls die belebende Helle. Wo wird
hell gesehen? Wenn Sie es wissen, so sind Sie begabter,
als ich es bin. Ich sehe in alien Richtungen Widerspruch
in den Worteu und den Taten, den ehrlich aufgestellten
Vorsatzen und den eingeschlagenen Wegen; dem Ver-
standlichen in den Zwecken und dem Unverstandlichen
in der Wahl der Mittel! Irgend Neues vermag ich in den
Objekten nicht zu entdecken, die Sachen sind die alten,
und sie sind selbst nicht in einem neuen Gewand aufge-
stellt, das Handgreifliche in der Lage sind die gewech-
selten Rollen unter den Darstellern des Schaustiickes.
Dass dasselbe mit Flugwerken und kostbarer mise en
scene >ausgestattet wurde, hieran ist kein Zweifel. Man
fuhre mir nur das Stuck nicht als ein neues an und er-
laube mir, die Entwicklung zum Ausspruch iiber die Be-
handlung des Stoffes abzuwarten.
Wahrhaft Neues liegt in der Art der Kriegfiihrung der
Seemachte, und es zeigt sich in der Dampfkraft. Ein Un-
ternehmen wie das in der Krim ware vor wenigen Jahren
unmoglich gewesen, und es gehort unzweifelhaft zu den
grossen Experimenten. Wird der Nutzen den Kosten ent-
sprechen? Dies wird auch die Zukunft lehren, welcher
viele grosse Aufklarungen anheimgestellt bleiben. Der
Himmel lenke sie zum besten !
Im Jahre 1855 wird sich vieles deutlicher zeigen, als ich
es heute zu erkennen vermochte. Ich hoffe Sie in dessen
Verlauf zu sehen. Plane mache ich nie iiber eine oder
105
hochstens zwei Jahreszeiten hinaus: ich foafoe mieh in
alien Zeiten und Lagen nach der Decke zu strecken ge-
wusst, und je alter meine Decke wird, una so mehr ver-
kiirzt sie sich.
Erhalten Sie mir Ihre Gefiihle, wie Sie der meinigen
versichert sein konnen.
Metternich.
106
Gottfried Keller war ein grosser Briefschreiber. Es lag wohl in
seiner schreibenden Hand ein Mitteilungsbediirfnis, das der Mund
nicht kannte. «Es ist sehr kalt heute; das Gartchen vor dem Fenster
schlottert vor Kiihle; siebenhundertundzweiundsechzig Rosen-
knospen kriechen beinahe in ihre Zweige zuriick.» Solche Verlaut-
barungen mit ihrem kleinen Bodensatz von Nonsens in der Prosa
(den Goethe einmal fiir den Vers obligat erklart hat), sind der
sinnfalligste Beleg dafiir, dass das Schonste und Wesentlichste die-
sem Schriftsteller mehr noch als andern unter dem Schreiben kam,
weswegen er sich qualitativ immer weniger zutraute, als er konnte,
quantitativ immer mehr. Im iibrigen sind seine Briefe nicht nur
raumlich in einer Grenzmark des sprachlichen Bereichs ge-
legen. Sie stellen in vielen ihrer besten Exemplare ein Mitt-
leres zwischen Brief und Erzahlung dar, Gegenstiicke der
Mischform zwischen Brief und Fuilleton, wie sie gleichzeitig
Alexander von Villiers pflegte. Den hingebenden Ober-
schwang des 18. Jahrhunderts, die formvollendete Konfession
der Romantik darf man in diesen Briefen nicht suchen. Ein Muster
ihrer sproden, verschrullten Art ist der folgende, zudem wohl die
ausfiihrlichste Aeusserung, die wir vom Schreiber iiber seine Schwe-
ster haben — jene Regula, von der er gesagt hat, dass sie «in puncto
alte Jungfer leider auf die ungliicklichere Seite dieser Nation zu
stehen gekommen sei.» Auch der unfehlbare, nicht ganz unver-
schworene Blick, den Keller fiir das Angefaulte, Lumpige besass,
verleugnet sich nicht, wenn er dem Adressaten das Einverstandnis
der beiden fahrenden Vortragskiinstler beschreibt. Und wie so oft
beginnt er damit, seine Saumnis zu entschuldigen. «Die Korrespon-
denzen, heisst es gelegentlich, stehen wie Wolken iiber meinem
armen Schreibtisch.» Er selber aber ist ein wolkenschiebender, von
langer Hand schweigender, die Schwiile unversehens mit gezack-
ten Spassen zerreissender, dumpf nachdonnernder Jupiter episto-
larius.
107
GOTTFRIED KELLER AN
THEODOR STORM
Zurich, 26. Februar 1879.
Ihr Brief, liebster Freund, so willkommen er mir ist,
hat mich doch in argerlicher Weise an meiner Saumselig-
keit ertappt, mit welcher ich seit Monaten mit einem
Brief e an Sie laborierte. Der Winter ist mir zum erstenmal
fast imertraglich geworden und hat fast alle Schreiberei
lahmgelegt. limner grau und lichtlos, dabei ungewohn-
lich kalt und schneereich, nach vorangegangenem Regen-
jahr, hat er mir fast taglich namentlich die Morgenstun-
den vereitelt. Ein einziges Mai hatte ich neulich ein Friih-
vergniigen, als ich eines Kaminfegers wegen um vier Uhr
aufstehen musste, der den Ofen zu reinigen hatte. Da sah
ich das ganze Alpengebirge im Siiden, auf acht bis zwolf
Meilen Entfernung, im hellen Mondschein liegen, wie
einen Traurn, durch die vom Fohnwinde verdiinnte Luft.
Am Tage war natiirlich alles wieder Nebel und Diisternis.
Ich witnsche Ihnen Gliick zu Ihrem Landkaufe und
Baumpflanzen; wer die Mutter noch hat, darf wohl noch
Baume setzen. Sie sind aber ja ein Hexenmeister von
Fleiss, wenn wir drei neue Arbeiten zu gewartigen haben;
sie soUen und werden Ihrem guten Namen nichts schaden,
da Sie ja das Vermogen nicht besitzen, absichtiich unter
sich selbst herabzusteigen, wie gewisse Industrielle, und
unabsichtlich hat es doch auch seine Mucken.
Den koketten Rhapsoden Jordan hab ich vor Jahren
bier auch gehort, und zwar in den gleichen Kapiteln; gar
wunderbar war es, das krankliche Knablein der Brun-
hild (welch moderates Romanmotiv ! ) zu Siegfried sagen
zu horen: «Du bist lieber als Papa». Jordan ist gewiss ein
108
grosses Talent; aber es braucht eine hirschlederne Seele, \
das alte und einzige Nibelungenlied fiir abgeschafft zu ;
erklaren, um seinen modernen Weehselbalg an dessen
Stelle zu schieben. Jenes Nibelungenlied wird mir auch
mit jedem Jahr lieber und ehrfurchtgebietender, und ich
finde- in alien Teilen immer mehr bewusste Vollkommen- ,
heit und Grosse. Als man nach der besagten Vorlesung '*
in Zurich aus dem Saale ging, hatte sich der Rhapsode >
unter der Tiire aufgestellt, und jeder musste an ihm vor- j,
beigehen. Vor mir her ging Kinkel, aueh ein Vortrags- "
virtuose und «schoner Mann», und nun sah ich, wie die ,*
beiden sich kurz zunickten und lachelten in einer Weise, £
wie nur Frauen sich zulacheln konnen. Ich wunderte mich, V
wie zwei so lange Kerle und geriebene Luder sich gegen-- 'j*
seitig so schofel behandeln mogen. Wahrscheinlich ver- |-
dirbt das reieende Deklamierwesen etwas die Poeten. |B
Petersen ist ja eine fursorgliche edle Seele; wenn es *"-
auf ihn ankame, so liesse er una den Verlegern schon mit- £
spielen, dass ihnen Horen und Sehen verginge. Indessen ft
schenken wollen wir den Herren gerade auch nichts. Da b
wir an Geldsachen sind, so will ich gleich noch einen $
wichtigen Punkt zur Sprache bringen. Sie haben nam- ,-k
lich schon einige Male Ihre Briefe mit Zehn-Pfennig- ,«.
Marken frankiert, wahrend es nach ausserhalb des Reiches }
zwanzig sein miissen. Nun habe ich eine Sch wester und «
sauerliche alte Jungfer bei mir, die jedesmal, wenn sie 7'
das Strafporto von vierzig Pfennigen in das Korbchen 1 !j
legt, das sie dem Brief trager an einer Schnur vom Fenster ,y
des dritten Stockes hinunterlasst, das Zetergeschrei erhebt : &
«Da hat wieder einer nicht genug frankiert !» Der Brief- [^
trager, dem das Spass macht, zetert unten im Garten
ebenfalls und schon von weitem: «Jungfer Keller, es hat "-
109
wieder einer nicht frankiert!» Damn walzt sich das Spek-
takel in mein Zimmer: «Wer ist denn da wieder ?» (An
Ihren Beraubungen haben Sie namlich Konkurrenz in
den osterreichischen Backfisch en, die an alle Dichter der
letzten jeweiligen Weihnachtsanthologie urn Autographen
schreiben, sofern der Wohnort des betreffenden Klassi-
kers aus dem Buche ersiehtlich ist.) «Den nachsten Brief
dieser Art», schreit die Schwester fort, «wird man sicher-
licb nioht mehr annehmen!» — «Du wirst nicht des
Teufels sein!» schrei ich entgegen. Dann sucht sie die
Brille, urn Adresse und Poststempel zu studieren, verfallt
aber, da sie meine offenstehende wanne Ofenrohre be-
merkt, darauf, die Erbssuppe von gestern zu holen und
in die Warme zu stellen, so dass ich den schonsten Kiichen-
geruch in mein Studierzimmer bekame, was sonderlich
fur den Fall ernes Besuches angenehm ist. «Raus rait der
Suppe!» heisst's jetzt, «und stell sie in deinen Ofen!»
«Dort steht schon ein Topf, mehr hat nicht Platz, weil
der Boden abschiissig ist!» Neuer Wortkampf xiber die
Renovation des Bodens, endlich aber segelt die Suppe ab,
und die Portofrage ist dariiber einmal wieder vergessen;
denn mit der Snppe hat Angriff und Verteidigung, Sieg
und Niederlage gewechselt.
Haben Sie also die Giite, der Quelle dieser Kriegs-
laufte nachzugehen und sie zu verstopfen. Machen Sie es
aber nicht wie Paul Lindau, der mir seinerzeit nach einer
Reihe von halbfrankierten Mahnbriefen urn irgend einen
Geschaftsartikel schnod bemerkte, so was konne bei ihm
gar nioht vorkommen; hochstens konne es sich um ein
einmaliges Versehen seines Sekretars handeln, er bitte
deshalb xim Nachsicht wegen des unliebsamen Vorfalls
mw. Da halt' ich von diesem Humoristen mein Teil weg!
110
Ich danke fiir Ihre J ahreswtinsche gar herzlich und
hoffe, daes ich in der Tat einen Ruck vorwarts tue mit
meinen Lebensrestanzen ; denn der Handel fangt doch
an, unsicher zu werden, und ein Altersgenosse nach dem
andern wird kampfunfahig oder segelt gar von dannen.
Ihnen wiinsche ich gleichfalls das Beste, vor all em Be- \
ruhigung wegen des mysteriosen Uebels, von dem Sie mir ''
schrieben, und an das wir vorderhand nicht glauben \
wollen. \\
Ihr G. Keller.
I
X
t
if
HI
Nietzsches Freund, der Basler Professor fur protestantische
Theologie und Kirchengeschichte Franz Overbecfc ist eine der gros-
sen Mittlergestalten gewesen. Was Sinclair Holderlin bedeutet hat,
ist Overbeck fur Nietzsche gewesen. Solche Manner, in denen man
oft nur eine Art wohlmeinender Heifer, wenn nicht gar Interes-
senvertreter gesehen hat, sind unendlich viel mehr: Reprasentanten
einer einsichtsvolleren Nachwelt. So oft sie auch die primitivste
Sorge fur jene iibernehmen, deren Rang sie ein fur alle Mai er-
kannten, niemals iibertreten sie die Schranken, die sie als Stell-
vertreter zu wahren haben. Kein Schriftstiick aus dem Ian gen,
brieflichen Verkehr zwischen Nietzsche und Overbeck bezeugt das
eindrucksvoller als das Folgende. Und dies, weil von alien Briefen,
die der Freund an Nietzsche geriehtet hat, dieser der kuhnste sein
mag. Nicht nur dem Vorschlag nach, mit dem er sich an den Verfasser
des Zarathustra wendet: eine Gymnasiallehrerstelle in Basel an-
zMiiehmen— sondern gleich sehr durcb. dieBeschworungen, die Nietz-
sches Lebensform, ja seine innersten Konflikte angehen. Wie diese
sich mit nuchternen Informationen und Erkundigungen durchflech-
ten, das macht die eigentliche Virtuositat des Schreibens, das somit
nicht nur wie von einem Pass den Blick auf Nietzsches Daseins-
landschaft offnet, sondern zugleich ein Bild vom Schreiber gibt.
Und zwar von seiner innersten Natur. Denn dieser Mittler konnte,
was er war, nur sein, weil er den scharfsten Blick fur die Extreme
hatte. Seine Streitschriften — «Christentum und Kultur», «Von der
Christlichkeit der heutigen Theologie» — haben das auf das riick-
sichtsloseste bekundet. Echte Christlichkeit ist ihm Religion un-
bedingter esehatologisch begriin deter Weltverneinung, der gemass
ihm ihr Eingehen in die Welt und deren Kultur als Yerleugnung
ihres Wesens, alle Theologie von der patristischen Zeit ab als Sa-
tan der Religion erscheint. Dass er sich selber mit diesen Schrit-
ten «als Lehrer der Theologie zu Deutschland herausgeschrieben*
habe, hat Overbeck gewusst. Hier der Brief, dessen Schreiber und
Adressat freiwillig aus dem Deutschland der Griinderzeit sich ver-
bannt hatten.
112
FRANZ OVERBECK
AN FRIEDRICH NIETZSCHE
Basel, Ostersonntag, 25. Marz 1883.
Lieber Freund,
besser die Zeit, die Dir lang vorgekommen 1st, ist auch
wirklich lang gewesen, als ich konnte mich rechtfertigen
tind Du hattest Dich getauscht. Mein letzter Brief ist
allerdings vor Wochen geschrieben, langst fiel mir selbst
dies aufs Herz, und doch habe ich sogar die erste Woche
der Ferien eben ablaufen lassen, ohne mir dagegen ge-
holfen zu haben. Von MuBe, die mir diese Ferien gebracht
hatten, ist eben keine Rede. Briefe und kleinere Arbeiten
aller Art, die aufgelaufen waren, fielen sofort an der
Schwelle tiber mich her. Daran erlahmt zeitweihg selbst
der fast schmerzliche Drang zu einer Antwort, den neuer-
dings zumal Deine Briefe und das schwere, darin sich
aussprechende Leiden erzeugen. Ich kann Dir nur sagen,
auch fiir Deine Freunde ist es eine ernste Sache, dass Du
trotz allem obsiegest, fiir alle, die Dir anhanglich sind im
gewohnHchen Sinne, fiir diejenigen, die Dich auch als
«Fiirsprecher des Lebens» schatzen noch in einem beson-
deren. Uebermaesig dunkel lasten auf Dir augenblicklich
Deine Vergangenheit wie Deine Zukunft, beides wirkt
auch gewiss verderblich auf Deine Gesundheit und ist so
nicht weiter zu ertragen. Bei der Vergangenheit, Deiner
geistigen, denkst Du nur an Fehlgrif fe und Unglucksfalle,
nicht an das, was davon zu uberwinden Dir noch stets
moglich war. Andere, die Dir zugesehen haben und kei-
neswegs nur Deine Freunde, haben meist auch dieses nicht
iibersehen. Wenn ich an das, was Dir doch auch gelungen
113
ist, denke, so erinnere ich Dich an Deine Easier Wirk-
eamkeit .als Lehrer besonders, teils als deren Zeuge, teils
weil mich das gleich auf Deine Zukimft bringen wird.
tjbervoll von ganz anderen Dingen, wie du damals warst,
hast Du Deinem Amt mit halbem oder Viertelsherzen ob-
gelegen, immerhin mit etwas davon und jedenfalls mit
solchem Erfolg, als ob es viel mehr gewesen ware. Warum
willst Du meinen, Du werdest nichts Gutes mehr machen,
es sei iiberhaupt Nichts mehr gut zu machen? Das wider-
spriclit schon englischer, sprichwortlicher, also alter Weis-
heit, in der neuen Dir selbst geschaffenen Deiner Philo-
sophic hat es vollends keinen Raum. Diese tauscht Dich
zwar nicht iiber die Hemmnisse Deines Lebens und seiner
festen Griindung, aber sie gestattet Dir auch nicht sie zu
iiberschatzen und Dich zu ergeben. Du fragst aber: Wozu
noch etwas machen? Znm Teil wenigstens tritt Dir, mein
ich, diese Frage aus der Dunkelheit, namlich ungewohn-
lichen Unabsehbarkeit Deiner Zukunft entgegen. Du
schriebst mir neulich, Du wolltest «verschwinden». Deiner
Phantasie schwebt dabei ein ganz bestimmtes, ohne Zwei-
fel selbst sehr lebhaftes Bild vor, und es erfullt Dich mit
der Zuversicht (die ich mit soldier Freude doch immer
wieder in Deinen Brief en auch jetzt hervorbrechen sehe),
Dein Leben soils Gestalt bekommen. Einen Freund kann
aber die Eroffmmg einer solchen Aussicht nur mit der
aussersten Banglichkeit erfiillen. Er hat jenes Bild nicht,
und dags Du Dich dabei mit Frau Wagner zusammenstellst,
bemhigt ihn am wenigsten. Sie ist wirklich, ohnehin am
Schluss ihres Lebens, in einer Lage, wo ein solches schliess-
lich sich vollkommen auf sich selbst Zuriickziehen und
auf das, was man gegen alle Welt sein eigen genannt hat,
bei dem natiirlichen menschlichen Egoismus noch etwas
114
wahrhaft Begliickendes haben kann, und dies, meine ich,
sogar in vollstandiger Uebereinstimmung mit einer ver-
standigen, auf die menschliche Natur und sortst nichts ge-
griindeten Moral. «Dein Verschwinden», wenn es uber-
haupt etwas mit dem der Frau Wagner gemein haben soli,
wii'rde Dir gewiss kein Gliick bringen. Ich sehe keine
Mogliehkeit fiir die Beruhigung, deren Du zur Zeit so
sehr bedarfst, so lange Du nicht festere Ziele fiir Dein
kiinftiges Leben ins Auge fassest. Und da will ich Dir
denn einen Gedanken mitteilen, den ich kiirzlich in Hin-
sicht auf Dich mit meiner Frau schon besprach und der
una Beiden der Ueberlegung nicht uuwert erschien. Wie
ware es, wenn Du daran dachtest, wieder Lehrer zu wer-
den, ich meine nicht akademischer, sondern Lehrer (etwa
des Deutschen) an einer hoheren Schule? Ich begreife
eehr wohl alles Peinliche, was Beriihrungen mit dem
adulten Mannergeschlecht der Gegenwart fiir Dich haben,
eine Riickkehr iiber die Jugend wird Dir ungleich leich-
ter sein, oder vielmehr Du kannst selbst auch bei ihr ganz
stehen bleiben und in Deiner Weise fiir Menschen wirken.
Sodann ist solcher Lehrerberuf einer von denen, ja darin
vielleicht keinem andern vergleichbar, fiir welchen Du
in diesen letzten Jahren nicht nur keine Zeit verloren
hast, sondern fiir welchen Du nur noch reifer geworden
bist. Endlich wiirde es Dir mit einer Absicht dieser Art
auch ausserlich — verzeih den schauderhaften, aber in
unserer Zeit verstandlichen Ausdruck, und ich will nur
kurz und verstandlich sein — an Ankniipfungspunkten
nicht fehlen. Denn ich bin iiberzeugt,. — rede iibrigens
dabei und in dieser ganzen Sache in strengstem Sinn nur
aus mir heraus dass Du hier damit ankamest. Bei diesen
Andeutungen lasse ich es bewenden, das fiihrst Du Allee,
115
wenn der Gedanke Lei Dir nur iiberhaupt anklingt, ja eo
sehon wie ichs nur wiinschen mag bei Dir aua. Fur jetzt ist
mein bester Trost, dass ich Dich unter arztlieher Aufsicht
weiss und dass hoffentlich nichts Wesentliehes und wirk-
lich Zutragliches versaumt wird. Den Winter haben wir
hier auch enst im Marz zu kosten bekommen und noch
vorgestern war ein ausserst rauher Tag. Moge es sich nun
bald wenden, damit Du an eine zweckmassige Uebersied-
lung denken kannst. Die Nachrichten iiber Deinen «Zara-
thustra» sind mir ausserst verdriesslich, und ich will nur
hoffen, dass Du Dich durch Ungeduld zu keinem Brucfa
hinreissen lassest, oder wenigstens zu keinem ausser mit
dem Gedanken sofort weiter fiir den Fortgang der Sache,
wo wir denn sehen miissten, wie etwa dafiir Rat zu schaf-
fen ware. Was Du mir von der Entstehung des Gedichts
schriebst, erfiillt mich mit Vertrauen auf Eeinen Wert,
und fiir Dein Heil als Schriftsteller habe ich neuerdings
immer von einem Werke dieser Art Hoffnungen gehabt.
Dass es Dir mit den Aphorismen so wenig gegluckt, lasat
sich, meine ich, mit mehr als einem Grunde erklaren. Soil
ich an Schmeitzner einen Mahnbrief schreiben oder an-
fragen? — Diese Woche erhalte ich Dein Geld, dieses
Mai 1000 frcs. Was soil ich Dir davon schicken und wie?
Ich denke nur recommendiert an Deine Adresse, was aber
nur mit Papier zu maehen ist. - — Mit herzlichen Griissen
meiner Frau, in Sorge und Freundschaft stets Deiner ge-
denkend Dein
Fr. Overbeck.
116
Im gleichen Verlag
erschien :
PAUL CLAUDEL
GEDANKEN UND GESPRACME
kart. Fr. 6.25; Leinen Fr. 7.25